Draussen ist es noch stockfinster, als der Assistenzarzt das Zimmer betritt. «Wir haben ein Herz gefunden», informiert er seine Patientin knapp. Eveline Heiniger richtet sich im Spitalbett auf, greift schlaftrunken zum Handy und ruft ihre Eltern an: «Es geht los!»
Die Narben auf ihrem Brustkorb lassen an eine Landkarte denken: Fünfmal wurde die 44-Jährige in den letzten 25 Jahren operiert. Zurück blieben Linien, die Heinigers Lebensweg nachzeichnen. Die Rückschläge, die dramatischen Wendungen – und jetzt endlich: ein wenig Hoffnung.
Es begann in der Oberstufe. Beim 1000-Meter-Lauf erreichte die Jugendliche stets als eine der Letzten die Ziellinie. «Vermutlich bin ich im Sport einfach eine Niete», dachte sie damals. Bis eine Untersuchung beim Hausarzt den wahren Grund für ihre Atemlosigkeit zeigte: Evelines Kreislaufwerte waren dramatisch abgesackt. Sie litt seit ihrer Geburt an einem Herzfehler.
Fortan stimmte sie alles darauf ab. Ging die Familie zum Bergwandern, nahm Eveline nach oben die Seilbahn. War Biken mit Freunden angesagt, wählte man eine möglichst flache Route. Die junge Frau wollte so normal wie möglich leben: «Das gab mir das Gefühl, nicht krank zu sein.»
Wieder Sport, wieder Reisen
Mit 20 erhielt Heiniger eine neue Herzklappe. Doch auch die schaffte es nicht, genügend Blut in ihren Kreislauf zu pumpen. Ein zweiter Eingriff wurde nötig. Diesmal setzten ihr die Mediziner eine grössere Klappe ein.
Bereits wenige Tage nach der Operation traten Komplikationen auf. Zwischen den Herzkammern hatte sich ein Riss gebildet, Heiniger kam notfallmässig unters Messer.
Nur fünf Jahre danach checkte sie abermals im Spital ein – mit einem gebrochenen Brustbein: Nach den vorangegangenen Eingriffen war es nicht optimal zusammengewachsen
Immerhin folgten dieser OP einige gute Jahre. Heiniger durfte wieder schwer heben, Sport treiben, auf Reisen gehen. Sie machte Karriere, erstellte als Spitalmitarbeiterin die Dienstpläne der Assistenzärztinnen und -ärzte, war für Anstellungen und Zeugnisse mitverantwortlich. Der Alltag war stressig, die Corona-Pandemie beschleunigte den Rhythmus zusätzlich. Und das Herz machte mit – bis es nicht mehr mitmachte. Sie musste kündigen und eine neue Stelle als MPA in einer Spezialarztpraxis antreten.
Doch auch bei geringerer Arbeitsbelastung überkam sie immer häufiger Atemnot. Jede Bewegung fiel ihr schwer, sie konnte kaum mehr aufstehen. «Ich war schon lange an der Grenze, wollte es aber nicht wahrhaben», sagt Heiniger.
Pflegende hängten Girlande übers Bett
Zunächst musste sie alle drei Wochen zum Arzt, dann alle zwei Wochen. Sie erhielt Infusionen. Doch in ihrem Gewebe sammelte sich Wasser, ihr Herzmuskel war der Herausforderung nicht gewachsen. Im Frühling 2021 dann die Diagnose: Herzinsuffizienz. «Wenn man Wasser in der Lunge hat, kann man nicht mehr atmen», sagt Eveline Heiniger. In gewissen Momenten hatte sie Angst, zu ersticken.
Im Mai letzten Jahres hatte sich ihr Zustand so verschlechtert, dass Medikamente nicht mehr ausreichten, das Wasser aus dem Körper zu schwemmen. Ihr blieb nur die Hospitalisation. Heiniger packte ihre Koffer, räumte die Wohnung auf. Alles mit dem Gedanken: «Vielleicht kommst du nicht mehr nach Hause.» Sie bezog ein Zimmer im Berner Inselspital. Dann begann das lange Warten auf ein neues Herz.
Die Pflegerinnen und Pfleger hätten ihr unglaublich geholfen, sagt Heiniger heute. Sie hängten ihr eine bunte Girlande übers Bett, öffneten die Tür zum Gang, wenn ihr vor Einsamkeit die Decke auf den Kopf zu fallen drohte. Heiniger häkelte Taschen, zunächst für sich, dann für alle anderen, es wurden immer mehr. Irgendwann kannte sie fast alle Angestellten im Spital.
Während ihr Name auf der Warteliste für ein Spenderherz nach und nach höher rutschte, zwang sie sich, nicht zu sehr an die Zukunft zu denken. Sie stand auf, wusch sich, häkelte, las Bücher, ging zu Bett. Tag für Tag, über ein halbes Jahr lang. Bis zu jenem frühen Herbstmorgen, als sie der Assistenzarzt weckte: «Wir haben ein Herz.»
«Ein Meilenstein in der Spitzenchirurgie»
Der Eingriff dauerte über zehn Stunden – auch, weil ihr Brustkorb nach all den früheren Operationen einem Trümmerfeld glich. Dass die Ärzte unter diesen Bedingungen genügend Zeit hatten, die Transplantation vorzubereiten, ist einer neuen Maschine zu verdanken, die den Herzzentren in Bern, Zürich und Lausanne VD erst seit Ende 2022 zur Verfügung steht.
Das Perfusionsgerät ermöglicht es, dass ein Herz ausserhalb des Körpers weiter schlägt. Die Zeitspanne zwischen Organentnahme und Transplantation verlängert sich dadurch wesentlich.
«Ein Meilenstein in der Spitzenchirurgie», urteilt Herzchirurg Matthias Siepe vom Inselspital über die neue Technik. Bislang wurden in der Schweiz lediglich Herzen von Spenderinnen und Spendern weitergegeben, die nach einem Hirntod verstorben sind. Dabei wird das nicht durchblutete Organ so schnell wie möglich in einem Eisbeutel transportiert. Es bleiben vier Stunden, bis es im Körper des Empfängers erneut zu schlagen beginnen kann.
Pro Jahr 15 Herzen mehr
Das Perfusionsgerät macht es nun möglich, das Organ auch nach einem Herzkreislaufstillstand zu transplantieren. Wenn die Angehörigen damit einverstanden sind, werden die lebenserhaltenenden Maschinen abgestellt. Fünf Minuten, nachdem zwei Ärzte den Tod festgestellt haben, beginnt die Organentnahme. Chirurg Matthias Siepe ist überzeugt, dass dank der neuen Maschine in der Schweiz pro Jahr künftig zehn bis 15 Herzen mehr verpflanzt werden können.
Eveline Heiniger erholt sich noch von der Operation. Dreimal wöchentlich geht sie zur Physiotherapie, täglich schluckt sie zwei Dutzend Pillen. Sie möchte wieder an Konzerte gehen, eines Tages vielleicht sogar einen Berg erklimmen. Aber sie weiss: Das braucht Zeit. «Ich werde diesem Herzen Sorge tragen», sagt sie. «Damit es ein gutes Daheim hat bei mir.»
Obwohl sie niemals erfahren wird, wer ihr das neue Herz gespendet hat, denkt Eveline Heiniger manchmal an diesen Menschen: «Es ist jemand gestorben, dafür darf ich leben.»
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