«Ich bekam ein zweites Leben geschenkt»
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SP-Nationalrat Angelo Barrile:«Ich bekam ein zweites Leben geschenkt»

Krebskranker SP-Nationalrat Angelo Barrile im Interview
«Ich war bereit zu sterben»

Vor anderthalb Jahren wurde er schwer krebskrank, dann erhielt er ein zweites Leben: SP-Nationalrat Angelo Barrile (45). Zu Ostern erzählt er, wie die Lymphom-Diagnose ihn prägt, was er bei einer Nahtoderfahrung erlebt hat und warum er eine Organspende befürwortet.
Publiziert: 18.04.2022 um 10:13 Uhr
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Aktualisiert: 18.04.2022 um 12:06 Uhr
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Der SP-Nationalrat Angelo Barrile erhielt 2020 eine Lymphom-Diagnose. Ostern bedeutet ihm viel: «Meine letzte Chemo-Infusion war am Karfreitag. Das bekam eine grosse Symbolik für mich.»
Foto: Valeriano Di Domenico
Rebecca Wyss

Herr Barrile, 2020 erhielten Sie die Lymphom-Diagnose. Wie geht es Ihnen heute?
Angelo Barrile: Gut, aber mit grossem Verbesserungspotenzial. Ich habe Schäden vom Krebs und der Chemotherapie, aber im Vergleich zum letzten Jahr ist das nicht erwähnenswert. Die Krankheit macht mir meine Grenzen bewusst. Diese lerne ich nun zu akzeptieren.

Welche Grenzen?
Ich habe Schmerzen und deutlich weniger Energie. Wenn ich in einer Woche zu viel mache, liege ich die nächste flach. Im Moment lerne ich, mich nicht darüber aufzuregen, was nicht geht, sondern zu schauen, wie ich das Beste daraus mache. Das ist herausfordernd.

Angelo Barriles Diagnose: Lymphome

In der Schweiz gibt es laut Krebsliga 43’500 neue Krebsfälle pro Jahr. Die meisten erkranken an Brust- und Prostatakrebs. Seltener als diese sind Lymphome – umgangssprachlich: Lymphdrüsenkrebs. Dies sind in der Regel bösartige Tumore des lymphatischen Systems. Zu diesem gehören die Lymphknoten, die Mandeln und die Milz. Bei Lymphomen wachsen weisse Blutkörperchen, die sogenannten Lymphozyten, unkontrolliert. Manche sind aggressiv, die Patienten müssen sofort behandelt werden. Bei anderen kann man abwarten und regelmässig zur Kontrolle gehen. Bei Angelo Barrile war der Krebs bei seiner Diagnose 2020 fortgeschritten, griff bereits seine lebenswichtigen Funktionen an. Weniger als 30 Prozent der Betroffenen in diesem Stadium überleben die ersten Jahre.

In der Schweiz gibt es laut Krebsliga 43’500 neue Krebsfälle pro Jahr. Die meisten erkranken an Brust- und Prostatakrebs. Seltener als diese sind Lymphome – umgangssprachlich: Lymphdrüsenkrebs. Dies sind in der Regel bösartige Tumore des lymphatischen Systems. Zu diesem gehören die Lymphknoten, die Mandeln und die Milz. Bei Lymphomen wachsen weisse Blutkörperchen, die sogenannten Lymphozyten, unkontrolliert. Manche sind aggressiv, die Patienten müssen sofort behandelt werden. Bei anderen kann man abwarten und regelmässig zur Kontrolle gehen. Bei Angelo Barrile war der Krebs bei seiner Diagnose 2020 fortgeschritten, griff bereits seine lebenswichtigen Funktionen an. Weniger als 30 Prozent der Betroffenen in diesem Stadium überleben die ersten Jahre.

Sie sind erfolgreich als Arzt und Politiker, waren es gewohnt, dass alles rundläuft.
Ich habs auch übertrieben. Früher hatte mein Tag 18 Stunden. Ich dachte immer, ich arbeite jetzt mit zwei belastenden Jobs durch und schaue dann später zu mir. Das geht nicht mehr. Der verstorbene Arzt David Servan-Schreiber, der selber krebskrank war, sagte, der Krebs habe ihm das Leben gerettet. Weil er erst durch ihn anfing, bewusst zu leben. So erging es auch mir. Ich bin für jeden Tag dankbar.

Das passt zu Ostern. Der heutige Tag steht für die Auferstehung Jesu und den Sieg des Lebens über den Tod. Was bedeuten Ihnen die Feiertage?
Sehr viel, besonders seit letztem Jahr. Die Chemotherapie raubte mir meine Kräfte. Am Ende konnte ich kaum mehr alleine stehen. Ich verlor zeitweise die Zuversicht. Meine letzte Chemo-Infusion war am Karfreitag. Das bekam eine grosse Symbolik für mich. Ich stellte mir vor, dass an Ostern hoffentlich meine Auferstehung beginnt.

Wie nahe kamen Sie dem Tod?
Der Tod war den ganzen Winter hindurch mein Begleiter. Mir kam es vor, als gingen wir auf zwei gegenüberliegenden Trottoirs nebeneinander her. Ich sah ihn immer, wusste, irgendwann kommt er zu mir rüber. Und im März war er plötzlich bei mir. Da begriff ich, dass ich die nächsten Wochen möglicherweise nicht überlebe.

Wie hielten Sie das aus?
Ich hatte ein Nahtoderlebnis. Die intensivste Erfahrung meines Lebens.

Beschreiben Sie diese doch bitte.
Es gibt keine Worte dafür. Es war einfach wunderbar.

Und wie fühlte es sich an?
Es ging übers Herz. Ich fühlte unendliche, bedingungslose Liebe. Eine Versöhnung mit meinem Leben und mit dem Krebs. Ich war bereit zu sterben. Und dann wurde mir mitgeteilt, dass meine Zeit noch nicht gekommen sei, und ich durfte wieder zurück. Ich bekam ein zweites Leben geschenkt. Und das verbinde ich nun mit Ostern.

Wie stehen Sie heute zum Tod?
Der Tod ist nichts Böses, gehört zum Leben. Ich habe heute keine Angst mehr vor ihm. Uns erwartet danach etwas Wunderbares. Aber wohlgemerkt: Ich lebe gerne und hoffentlich noch lange!

Der Wiederauferstandene

Angelo Barrile wuchs als Sohn sizilianischer Eltern in Pfungen ZH auf. Sein Vater war Fabrikarbeiter, seine Mutter Angestellte in einer Spital-Wäscherei. Damals traute man Gastarbeiterkindern nicht zu, das Gymi zu schaffen, Barrile tat es – ein Lehrer hatte ihn dazu ermutigt. Später studierte er Medizin, wurde Hausarzt und arbeitet heute in einer Gruppenpraxis in Zürich. Gleichzeitig sitzt er seit 2015 für die SP im Nationalrat. Ende 2020 musste er mit allem pausieren: wegen eines aggressiven Lymphoms. Bis Ende April letzten Jahres hatte er sechs Chemo-Zyklen. Und entkam knapp dem Tod. Barrile lebt in einer eingetragenen Partnerschaft und wohnt in Zürich.

Valeriano Di Domenico

Angelo Barrile wuchs als Sohn sizilianischer Eltern in Pfungen ZH auf. Sein Vater war Fabrikarbeiter, seine Mutter Angestellte in einer Spital-Wäscherei. Damals traute man Gastarbeiterkindern nicht zu, das Gymi zu schaffen, Barrile tat es – ein Lehrer hatte ihn dazu ermutigt. Später studierte er Medizin, wurde Hausarzt und arbeitet heute in einer Gruppenpraxis in Zürich. Gleichzeitig sitzt er seit 2015 für die SP im Nationalrat. Ende 2020 musste er mit allem pausieren: wegen eines aggressiven Lymphoms. Bis Ende April letzten Jahres hatte er sechs Chemo-Zyklen. Und entkam knapp dem Tod. Barrile lebt in einer eingetragenen Partnerschaft und wohnt in Zürich.

Waren Sie als Arzt eigentlich besser gewappnet?
Als Arzt vertraue ich der Medizin. Meine Überlebenschance für die nächsten Jahre ist rein statistisch nicht sehr gross. Mir war klar: Die Chemotherapie wird mich an den Rand bringen, ist aber meine einzige Chance. Das und die Schicksale von Patientinnen und Patienten von mir gaben mir Zuversicht.

Wen konkret hatten Sie vor Augen?
Eine meiner Patientinnen, die ein Jahr vor mir ihre Krebsdiagnose erhielt: fortgeschrittenes Stadium, ohne Heilungschancen. Sie kommt noch immer zu mir in die Sprechstunde. Sie hat die Haltung: Ich werde sterben, aber ich packe das. Sie lebt länger als erwartet und ist zufrieden und dankbar für jeden Tag.

Ostern steht nicht nur für Auferstehung, sondern auch für die Neuwerdung. Was ist Neues aus Ihnen als Arzt geworden?
Ich sehe den Tod nicht mehr als Niederlage. Die Begleitung im letzten Lebensabschnitt ist ein Teil meiner Arbeit. Viele Krebskranke können mit niemandem über ihre Ängste sprechen. Oder über den Tod. Die Angehörigen weichen oft dem Thema aus. Sie haben ja auch Angst. Ich spreche nun mit den Betroffenen über ihre Bedürfnisse, ihre Vorstellungen vom Tod und darüber, wie sie sterben möchten.

Und als Politiker?
Ich bin geduldiger geworden, ärgere mich im politischen Alltag weniger. Und ich gehe noch offener auf Mitglieder anderer Parteien zu. Es ist einfach, mit Empörung und Hetze gegen Andersdenkende Politik zu machen – was viel zu häufig passiert. Aber das führt nicht zu Lösungen. Wir müssen aufeinander zugehen.

Treten Sie zu den nächsten Wahlen an?
Mal sehen! Das ist in eineinhalb Jahren. Ich weiss nicht einmal, ob ich dann noch lebe. Wenn ich noch ein paar Jahre hier sein darf, werde ich mich künftig wohl eher wieder mehr meiner Berufung widmen: heilen, Leiden lindern und Patienten im letzten Lebensabschnitt begleiten.

Wir stimmen bald über die Organspende ab. Hat Ihre Erfahrung Ihre Haltung beeinflusst?
Sie hat sie bestätigt. Der Sinn unseres Lebens ist, unser Leben und jenes anderer Lebewesen zu schützen. Wenn ich sterbe, sollten meine Organe – falls möglich – anderen ein besseres Leben ermöglichen. Aber das muss jeder selber entscheiden.

Die Gegner fürchten, dass der Mensch zum Ersatzteillager wird.
Das sehe ich anders. Wenn jemand sowieso gestorben ist und seine Organe nicht mehr braucht, dann bekommt sie wenigstens ein anderer Mensch, damit er noch ein bisschen weiterleben darf.

Die Ablehnungsrate bei der Organspende in der Schweiz ist rund doppelt so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Der Tod ist bei uns ein Tabu. Wenn jemand stirbt, wissen die Angehörigen nicht, was die Person wollte. Verständlicherweise ist für die Angehörigen so die Schwelle für eine Spende hoch. Sie sagen Nein, obwohl sie die eigenen Organe spenden würden.

Warum tun wir uns mit dem Thema Tod so schwer?
Der Tod ist aus unserem Alltag verschwunden. Früher starben die Menschen oft jung, an Krankheiten, oder viele Frauen nach Geburten. Sterbende wurden daheim begleitet und gepflegt, und die Toten wurden zu Hause aufgebahrt. Durch die moderne Medizin kann heute zum Glück vieles behandelt werden. Die Menschen sterben meistens im Spital oder in einem Heim.

Der Ukraine-Krieg bringt ihn uns nun wieder näher.
Die Bilder von Kriegsopfern gehen mir sehr nahe! Aber es ist eine andere Auseinandersetzung mit dem Tod, wenn jemand im nahen Umfeld stirbt.

Viele Ukrainerinnen kommen mit ihren Kindern in die Schweiz. Ihre Eltern waren Gastarbeiter. Wie war das für sie?
Meine Eltern leben gerne in der Schweiz. Aber die Familie in Sizilien zu verlassen, in die Fremde zu gehen, war für sie eine Leidensgeschichte. Wie für die meisten Menschen, die ihr Zuhause verlassen müssen.

Wie war es für Sie als Kind?
Ich wusste immer, dass wir gehen müssen, sollten meine Eltern ihre Arbeit verlieren. Heute spricht man von Integration. Früher wollte man das nicht. Solange man die Gastarbeiter brauchte, war es gut, danach sollten sie gehen. Ich wuchs bei einer Schweizer Tagesmutter auf, lernte gleichzeitig Mundart und Italienisch. Trotzdem nannte man mich, uns «Tschinggen». Ich wurde auch zu Geburtstagsfeiern nicht eingeladen, weil die Eltern dieser Kinder keine Tschinggen zu Hause haben wollten. Als Kind fragte ich mich immer, was ich falsch gemacht habe.

Sie setzen sich nun mit Vorstössen für die Gastarbeitergeneration Ihrer Eltern ein. Was fordern Sie konkret?
Sie arbeiteten auf dem Bau, in Fabriken, Jobs, die die Einheimischen nicht wollten, und trugen zur heutigen Schweiz mit ihrem Wohlstand bei. Das könnte man doch anerkennen und schauen, dass sie bei den Einbürgerungsverfahren keine Sprachprüfungen ablegen müssen. Das ist für sie eine grosse Hürde.

Sie selber liessen sich mit 20 einbürgern.
Das war mir wichtig. Der Pass war für mich wie eine Anerkennung, dass ich hierher gehöre. Das haben viele Leute nicht, die seit 50, 60 Jahren in der Schweiz leben. Wir sollten eine Willkommenskultur pflegen: Du bist hier, arbeitest hier, du gehörst zu uns.

Das macht man ja jetzt bei den Ukrainern.
Ich hoffe, die Stimmung bleibt so. Was ist, wenn die Menschen in fünf Jahren noch da sind? Jetzt sagt man, sie gingen bald wieder. Dabei weiss niemand, ob das wirklich so ist.

Zum Schluss noch einmal zum Tod: Sie sagten, danach erwarte uns etwas Wunderbares. Was macht Sie so sicher?
Vor einem Jahr durfte ich einen Teil von dem erleben, was uns erwartet. Leider hatte ich das 44 Jahre lang nicht realisiert oder wieder vergessen. Wir suchen ein Leben lang nach einem Sinn, dabei wird uns bei der Geburt alles mitgegeben.

Glauben Sie an Gott?
Ja und nein. Ich habe die göttliche Kraft des Universums und seine unendliche Liebe erfahren. Das ist kein «Glauben». Ich weiss, dass es existiert!


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