SonntagsBlick: Herr Rohr, welche Extremereignisse haben unser Bild von Naturgewalten in der Schweiz geprägt?
Christian Rohr: Historisch der Bergsturz von Goldau 1806, der zu einem medialen Grossereignis wurde. Grund dafür waren die Veduten, grafische Darstellungen des Unglücks, die systematisch verbreitet wurden, um Spendengelder zu sammeln. Und zuletzt sicher das Hochwasser 2005. Besonders die Bilder des gefluteten Berner Mattequartiers blieben haften.
Liegt das auch daran, dass just zu jener Zeit das Zeitalter der sozialen Medien begann?
Sie sind ein wichtiger Treiber für die Medialisierung von Katastrophen. Erstmals sind Bilder und Filmchen des Hochwassers nicht nur über Zeitungen und Fernsehen verbreitet, sondern auch von Betroffenen und Schaulustigen auf die Videoplattform Youtube hochgeladen worden, die erst Monate zuvor gegründet worden war.
Trotzdem vergessen wir nur allzu schnell, wie furchtbar solche Katastrophen sind.
Dadurch, dass wir auf extreme Lagen nur sehr unzureichend vorbereitet sind und wohl viele sogar das letzte schwere Hochwasser von 2005 schon weitgehend vergessen haben, empfinden wir ein Ereignis wie die jetzigen Unwetter als überraschend. Die «Natur schlägt zurück», heisst es dann in den Schlagzeilen, garniert mit dramatischen Bildern, die betroffen machen. Schon in der Geschichte spielten solche Bilder eine Rolle, wenn etwa eine Naturkatastrophe auf Flugblättern des 16. und 17. Jahrhunderts dramatisch dargestellt wurde, zum Teil in übertriebener Form. Problematisch wird es, wenn daraus Sensationsgeheische wird.
Warum faszinieren uns die Naturgewalten so?
Ich habe selbst vor meiner Abreise in die Ferien täglich die Aare in Bremgarten bei Bern beobachtet und fotografisch dokumentiert. In zahlreichen Whatsapp-Gruppen in meinem Umfeld findet dies ebenfalls statt. Für die Bewusstseinsbildung ist so etwas durchaus ein wichtiger Ansatzpunkt, es ist zudem eine Form der Bewältigung der als Bedrohung empfundenen Lage. Die Neugier kann aber auch zu einem «Katastrophentourismus» führen – und der ist recht problematisch, ja auch gefährlich.
Der im oberösterreichischen Wels geborene Historiker Christian Rohr (54) ist seit 2010 ordentlicher Professor für Umwelt- und Klimageschichte an der Universität Bern und Direktor der dortigen Abteilung für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte. Die Historische Klimatologie bildet dabei neben der Mediävistik einen seiner Forschungsschwerpunkte.
Der im oberösterreichischen Wels geborene Historiker Christian Rohr (54) ist seit 2010 ordentlicher Professor für Umwelt- und Klimageschichte an der Universität Bern und Direktor der dortigen Abteilung für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte. Die Historische Klimatologie bildet dabei neben der Mediävistik einen seiner Forschungsschwerpunkte.
Wie prägen Katastrophen unsere Denkmuster?
Extremereignisse führen in der Regel zu einer Bewusstseinsänderung. Das Wort «Katastrophe» bedeutet ja übersetzt «Umwälzung». Als sich 2011 nach Erdbeben und Tsunami das Reaktorunglück von Fukushima in Japan ereignete, erhöhte dies die Sensibilität dafür, dass Reaktorunfälle auch bei uns grundsätzlich möglich sein könnten, was den schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie in der Schweiz, in Deutschland und anderen Ländern beschleunigte.
Dieses Bewusstsein verblasst allerdings nach einiger Zeit.
Früher war dies meist der Fall, wenn ein bis zwei Generationen lang nichts passierte und sich fast niemand mehr an das Katastrophenereignis erinnern konnte. In unserer heutigen, temporeichen Mediengesellschaft verblassen solche Erinnerungen noch schneller.
Auch Katastrophen beeinflussen die Wahrnehmung des Klimawandels also nur kurzfristig?
Hinsichtlich des Klimawandels und des diesbezüglich unzweifelhaft nötigen Umdenkens klafft unsere Gesellschaft immer mehr auseinander.
Können Sie das erklären?
Zum einen entscheiden sich immer mehr Menschen für eine nachhaltige Mobilität. Zum anderen ist der Trend zu Klimakillern – von den vielen SUVs bis hin zum Kreuzfahrttourismus – nach wie vor ungebremst. Die Ablehnung der CO₂-Initiative ist ein deutliches Zeichen, dass klimagerechte Umstellungen nach wie vor nicht mehrheitsfähig sind. Grosskatastrophen bringen hier höchstens kurzfristig ein stärkeres Bewusstsein.
Was machen akute Extremereignisse mit wohlbehüteten Gesellschaften wie der Schweiz?
Mit dem Reichtum eines Landes steigt auch die materielle Verletzlichkeit. Je mehr ein Haus oder Auto kostet, das von der Überschwemmung zerstört wird, desto höher ist auch der Gesamtschaden eines Ereignisses. In reichen Ländern, in denen praktisch jeder ausreichend versichert ist, führt dies auch zur Sorglosigkeit, weil die «Versicherung ja sowieso alles zahlen wird». Doch irgendwann werden die Versicherer die Schäden nur mehr bei erhöhten Prämien übernehmen, weil sie es sich sonst nicht mehr leisten können.
Wir wiegen uns also in falscher Sicherheit?
Insbesondere in der westlichen Welt gibt es Gesellschaften, die verdrängen, dass Naturkatastrophen überhaupt existieren. Teile der Bevölkerung, der Politik, der Wirtschaft sehen diese Extremereignisse nicht als Warnung für ein nötiges Umdenken, sondern spielen sie als reine Wetterphänomene herunter. Das Leugnen von Extremereignissen und damit auch des menschengemachten Klimawandels findet sich durchaus auch in der Schweiz.