Allmählich ziehen sich die Wassermassen aus den Überschwemmungsgebieten in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz zurück, während die Hilfskräfte in den Trümmern zerstörter Ortschaften, auf überfluteten Strassen und Feldern weiter fieberhaft nach Todesopfern suchen.
Bis gestern Abend stieg die erschütternde Zahl auf mehr als 150. Allein im Grossraum Ahrweiler südlich von Bonn kamen nach Angaben der örtlichen Polizei über 90Menschen ums Leben. Es sei zu befürchten, dass noch weitere hinzukommen, teilten die Behörden mit. Mehr als 600 Menschen sind verletzt, unzählige werden noch immer vermisst.
Die Unwetter haben neben apokalyptischen Zerstörungen eine kaum zu beschreibende Verzweiflung ausgelöst. Die Flut kam in der Nacht zum Donnerstag – Hunderttausende wurden im Schlaf überrascht. Die Hilfskräfte versuchen zu retten, was noch zu retten ist. In den Gassen überschwemmter Ortschaften heben Bagger Autos an, die vom Druck der Sturzfluten übereinandergeworfen und verkeilt wurden. Tische, Stühle, Bänke, beschädigter und verschlammter Hausrat aller Art – oftmals das gesamte Hab und Gut der Betroffenen – steht und liegt vor den beschädigten Häusern aufgereiht. Es sind Bilder wie aus einem Kriegsgebiet.
Infrastruktur ist kollabiert
Stromversorgung und Mobilfunk sind in weiten Teilen der überfluteten Regionen zusammengebrochen. Viele Kraftwerke laufen nur noch im Notbetrieb, sogar ein Gefängnis musste evakuiert werden.
Im benachbarten Belgien forderte die Katastrophe bislang 24 Menschenleben, wie das Nationale Krisenzentrum am Samstag mitteilte. In Teilen der Provinz Flämisch-Brabant sei die Situation noch immer kritisch. In der stark betroffenen Provinz Lüttich hingegen habe man die Sucharbeiten nahezu abgeschlossen.
Auch in den Niederlanden mussten Tausende ihre Häuser verlassen, unter anderem in der Stadt Venlo im Süden des Landes mit 100 000 Einwohnern. Dort musste bereits am Freitag ein Krankenhaus mit 200 Patienten vorsorglich evakuiert werden.
Zehntausende Hilfskräfte stehen in Deutschland, Belgien und den Niederlanden seit Tagen im Dauereinsatz; sie werden unter anderen von Hilfskorps aus Österreich unterstützt. Gestern Mittag besuchte Deutschlands Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (65, SPD) gemeinsam mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (60), dem Kanzlerkandidaten der CDU, die Rettungskräfte in Erftstadt. Laschet beklagte eine «Flutkatastrophe von historischem Ausmass». Bundeskanzlerin Angela Merkel (67) wird heute in der verwüsteten Region in Rheinland-Pfalz erwartet.
Alle Kandidaten sehen den Klimawandel als Ursache
Die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock (40) brach ihren Urlaub ab und reiste ins Krisengebiet, verzichtete aber bewusst auf Pressebegleitung. Auf Twitter schrieb sie: «Die Gespräche gehen unter die Haut. Nach wie vor sind nicht alle Orte erreicht, Menschen weiter abgeschnitten. Zugleich gibt es eine unglaubliche Solidarität zu helfen, Betroffene zu Hause aufzunehmen und zu unterstützen.»
Der SPD-Spitzenkandidat für die Bundestagswahl am 26. September, Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz (63), machte sich in Bad Neuenahr ein Bild der Lage. Er versprach weitreichende finanzielle Hilfen der Bundesregierung.
Die Katastrophe dieser Woche könnte die Wahlen in gut zwei Monaten nachhaltig beeinflussen und die Klimapolitik zu ihrem wichtigste Thema machen. Laschet, Baerbock und Scholz sind sich einig, dass die historischen Wetterereignisse als Folge des vom Menschen gemachten Klimawandels zu betrachten sind.
Katastrophales Versagen
Derweil wird in den deutschen Medien erste Kritik am Katastrophenschutz laut. Die «Bild»-Zeitung beklagt ein «Versagen vor der Flut». Der Katastrophenschutz habe in weiten Teilen der Hochwassergebiete seine Aufgabe nicht erfüllt. Sirenen seien vielerorts stumm geblieben, es habe kaum oder viel zu spät Warndurchsagen gegeben, der öffentlich-rechtliche Rundfunk habe weiter Popmusik gesendet, als Menschen starben. Dabei sei der Katastrophenschutz eines der wichtigsten Aufgabengebiete des Staates – doch das System habe versagt, Hunderttausende seien im Stich gelassen worden.