Wir schreiben den letzten Märztag des Jahres 2022: Unterschiedlicher könnten die Meinungen über Corona kaum sein. Auch der Name des Präsidenten der eidgenössischen Impfkommission, Christoph Berger (61), ist in diesen Tagen in aller Munde. Gegen 22.30 Uhr klingelt es an jenem Abend an seiner Haustür.
Vor der Tür: ein Mann in Polizeiuniform, Sturmhaube, Pamir (Ohrenschutz) und mit Sturmgewehr über der Schulter. Berger sei in Gefahr! Auf Forderung des vermeintlichen Polizisten steigt der Impfchef zu ihm ins Auto. Gemeinsam fahren sie in ein Waldstück im Gebiet Pfannenstiel, einem Hügelzug am rechten Zürichseeufer. Die «Aargauer Zeitung» rekonstruiert den Fall anhand der Einstellungsverfügung.
Impfgegner in Geldnot
Der falsche Polizist gibt vor, Berger vor sogenannten Corona-Leugnern zu schützen: «Lieber fahren wir einmal nachts in der Gegend herum, dann haben wir nachher kein Problem, als zu sagen nein, wir wollen Sie jetzt nicht stören und nachher ist Ihre Familie alleine», sagt der Unbekannte zum gelernten Kinderarzt. Als Präsident der Impfkommission sei er gefährdet, von Impfgegnern erpresst zu werden.
«Ich glaube, Sie haben wahrscheinlich einen der schwierigsten Jobs momentan im ganzen Land», täuscht der vermeintliche Polizist Sympathie vor. Im Wald angekommen, schlägt die Stimmung um: Berger wird aufgefordert, aus dem Auto auszusteigen. Sein Entführer hält ihm eine Pistole an den Kopf.
Der Fremde fordert 300'000 Franken für eine von ihm entwickelte App. Sie soll Menschen für Nachbarschaftshilfe vernetzen – ein Flop, der Entführer versinkt in Schulden. Berger soll als Impfchef die App empfehlen, die die gespaltene Gesellschaft wieder vereinen soll.
100 Franken fürs Taxi nach Hause
Dabei gibt sich der Entführer als Impfgegner zu erkennen, vor dem er Berger zuvor gewarnt hatte: «Jetzt ist es fertig mit diesem verdammten Impfstoff, diesem Gift!»
Der Mann droht dem Impfchef und seiner Familie mit dem Tod, sollte er das Geld nicht bis Dienstag, 5. April, erhalten. Zur Einschüchterung zeigt er seinen mit Waffen beladenen Kofferraum. Er werde sich per Mail melden, Codewort: «Negan» – der Anführer aus der Serie «The Walking Dead», der nach einer Apokalypse versucht, die Gesellschaft wiederaufzubauen.
Danach setzt der Erpresser Berger am Bahnhof Uster ZH ab und gibt ihm hundert Franken fürs Taxi. Umgehend kontaktiert Berger die Polizei.
Fünf Tage später, um 9.25 Uhr, trifft das angekündigte Mail ein. Rasch kann die Polizei den Entführer als den Deutschen Kevin W.* (†38) aus Wallisellen ZH identifizieren.
Freundin bezeichnete ihn als Versager
W. war ein verschuldeter Möchtegern-Multimillionär. Sein Plan, sich selbständig zu machen, scheiterte. Dennoch lebte er in einer Penthousewohnung, fuhr einen 7er-BMW und gab sich mit seiner Freundin Maria S.* (†28) als erfolgreiche Geschäftsleute aus.
Seine Freundin nannte ihn einen Versager, als er nicht mehr jeden Luxus bezahlen konnte. Dennoch verprasste sie sein Geld für Wimpern und Marihuana, so die «Aargauer Zeitung».
Noch am selben Tag, an dem die Polizei den Täter identifiziert hat, schickt sie eine Spezialeinheit zu seiner Wohnung. Um 19.50 Uhr stoppt die Polizei W., als er mit seinem BMW in die Tiefgarage fährt. Ohne zu zögern, zieht der 38-Jährige eine Selbstladepistole und schiesst auf seine Lebensgefährtin, die sofort tot ist. W. stirbt kurz darauf durch eine Polizeikugel.
Berger verneinte Impfgegner-Motiv
Untersuchungen der Polizei ergeben, dass sich Kevin W. in das Thema Corona hineingesteigert hatte und sich «verarscht fühlte» von den Corona-Massnahmen. Vom Schuldenberg wussten jedoch weder seine Freundin noch sein Geschäftspartner Jeremy A.*. Letzterer wurde verhört und 34 Tage in U-Haft gesteckt. Doch Ermittlungen bewiesen seine Unschuld: Er kommt frei und erhält 6600 Franken Genugtuung.
Am 20. Dezember stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Offen bleibt allerdings, warum Berger in einer Stellungnahme erklärt hatte, die Entführung habe nichts mit seiner Funktion als Impfchef zu tun.
* Namen geändert