Wallisellen ZH, Mittwochabend, kurz vor 20 Uhr: Schwer bewaffnete Mitglieder der Spezialeinheit Diamant lauern Kevin W.* († 38) und dessen Freundin Maria S.* († 28) auf. Als die beiden mit einem schwarzen BMW in die Tiefgarage ihres Wohnblocks einbiegen, schlagen die Elitepolizisten zu. Ihre Mission: die Verhaftung von Kevin W.
Die Operation misslingt. Der Bayer dreht durch, zückt eine Waffe, erschiesst seine Freundin – und wird selbst von Polizeikugeln getroffen. Die Beamten leiten sofort Erste-Hilfe-Massnahmen ein, führen Herzdruckmassagen durch. Vergebens – beide sterben.
Warum war Kevin W. im Visier der Polizei? Vor zehn Tagen hatte er einen Mann entführt, ihn stundenlang festgehalten und mit einer Waffe bedroht. Wie die Tamedia-Zeitungen am Freitag publik machten, handelt es sich bei dem Opfer um einen national bekannten Corona-Experten des Bundes. Das Bezirksgericht Zürich verbietet in einer superprovisorischen Verfügung, das Opfer beim Namen zu nennen. Es sei «zum aktuellen Zeitpunkt kein Zusammenhang der Tat mit der beruflichen Tätigkeit des Gesuchstellers» ersichtlich, heisst es in dem Dokument. Gleichzeitig wird «die Gefahrenlage durch die Polizei noch immer als akut eingeschätzt», weshalb sich das Entführungsopfer derzeit an einem unbekannten Ort aufhalte.
Noch vieles in diesem Fall ist mysteriös. Weshalb wurde Kevin W. zum Geiselnehmer – und später zum Mörder? Die Ermittler suchen fieberhaft nach dem Motiv.
Dabei könnte eben doch ein Zusammenhang zwischen der Tat und dem beruflichen Hintergrund des Entführten bestehen. Am Freitag gab die Staatsanwaltschaft Zürich bekannt, im Zusammenhang mit dem Kriminalfall einen 34-jährigen Schweizer in einem Nachbarkanton festgenommen zu haben. Seine Rolle sei Gegenstand der Ermittlungen.
Bei dem Verhafteten handelt es sich um den Zuger Jeremy A.* Er ist ein glühender Verschwörungstheoretiker. Im Februar 2020 gründeten A. und W. gemeinsam ein Start-up für Nachbarschaftshilfe.
Flache Erde
2019 gab Jeremy A. dem Online-Magazin «Vice» ein Interview und outete sich als Anhänger der Flat-Earth-Theorie, gemäss der die Erde eine Scheibe ist. «Es waren langsame Schritte bis zur Überzeugung», sagte er. Dann habe er sich gefühlt wie neugeboren. «Wenn du nicht mehr an den Globus glaubst, fallen damit ganz viele andere Glaubens- konstrukte zusammen.»
Nun zeigen SonntagsBlick-Recherchen: Jeremy A. war nicht nur Flacherdler, sondern auch aktiver Teil der Corona-Bewegung. Am 20. März 2021 marschierte er an einer Demo von Massnahmengegnerinnen und -gegnern in Liestal BL.
Die Demo war einer der grössten Aufmärsche von Corona-Skeptikern in der Schweiz. Knapp 10'000 Menschen nahmen daran teil. Am Rande der Kundgebung kam es zu Übergriffen auf linke Gegendemonstranten. Ein Journalist wurde von Rechtsextremen blutig geschlagen.
Jeremy A. lief zusammen mit anderen Flat-Earth-Aktivisten. Die kleine Gruppe zog die Aufmerksamkeit anderer Demo-Teilnehmer und der Medien durch ein Transparent auf sich, das in grossen Lettern behauptete: «The earth ist flat» – die Erde ist flach. Ein QR-Code auf dem Transparent führte zu einer Website mit Verschwörungstheorien, die unter anderem den Holocaust leugneten.
Die Teilnahme der Flacherdler löste innerhalb der Corona-Bewegung eine Kontroverse aus. Aktivistinnen und Aktivisten beschuldigten A. und dessen Mitstreiter, die Szene mit ihrer Flat-Earth-Theorie absichtlich in Verruf bringen zu wollen.
Gewalttätige Massnahmengegner
Sicherheitsbehörden warnen schon lange vor dem Gewaltpotenzial der Verschwörerszene. Aufgrund von Drohungen musste der Bund im Verlaufe der Pandemie die Bewachung exponierter Personen verstärken. Auch das national bekannte Entführungsopfer musste geschützt werden.
Im Ausland sind radikale Massnahmengegner bereits mehrfach durch Gewalttätigkeiten aufgefallen. In Deutschland läuft zurzeit ein Mordprozess gegen einen Mann, der im September einen jungen Tankstellenangestellten erschossen hat. Grund für die Tat war ein Streit über das Tragen der Corona-Schutzmaske.
Erst am Donnerstagabend wurde die Fraktionschefin der Grünen in Wien auf der Strasse von einem Massnahmengegner attackiert. Der Mann schlug der Politikerin ein Glas ins Gesicht.
Sind Corona-Skeptiker nun auch in der Schweiz zur Tat geschritten? Noch ist vieles unklar. Bei dem am Mittwoch erschossenen Täter Kevin W. deutet im Gegensatz zu seinem verhafteten Geschäftspartner bisher nichts auf einen verschwörungstheoretischen Hintergrund hin. Auf Instagram gab sich der Deutsche als smarter Geschäftsmann. Mit seiner Freundin posierte er in der gemeinsamen Penthouse-Wohnung im obersten Stock eines Luxusneubaus im Walliseller Zwicky-Areal für Fotos, die er auf der Plattform postete.
Finanzielle Schwierigkeiten
Doch hinter der Social-Media-Fassade kriselte es. Das Start-up von Kevin W. und Jeremy A. steckte in finanziellen Schwierigkeiten. Dessen App für Nachbarschaftshilfe wurde kaum nachgefragt. Laut den Tamedia-Zeitungen musste der erschossene Deutsche hohe Kredite aufnehmen, um die Firma zu finanzieren. Einer Influencerin, die für das Start-up geworben hatte, zahlten die Geschäftspartner mehrere Monate lang keinen Lohn.
Bei einer Durchsuchung von Kevin W.s Wohnung in Wallisellen fand die Polizei Waffen und Munition. Der Deutsche hatte regelmässig damit hantiert. Er trainierte in einem Schiesskeller des Industriegebiets von Spreitenbach AG. Auch seine getötete Freundin hat dort geschossen, wie Videos auf Instagram belegen.
Die Kantonspolizei Zürich wusste von W.s Waffenbesitz. Für die geplante Verhaftung bot sie deshalb die Spezialisten der Interventionseinheit Diamant auf.
* Namen geändert