So etwas hat Otto J.** (66) in seinen 39 Jahren in dem Aargauer Dorf noch nie erlebt. «Am Donnerstagmorgen um halb 5 Uhr hat jemand bei mir Sturm geläutet. Meine Frau hat mich wachgerüttelt und da stand die Sondereinheit vor der Türe», berichtet der Anwohner, nach wie vor verdutzt über die Geschehnisse. Verunsichert habe er aufgemacht, berichtet er im Gespräch mit Blick: «Sie wollten reinkommen und haben nach einem Fenster mit Blick zum Mehrfamilienhaus gefragt. Schliesslich hat sich ein Polizist dann in unserem Garten mit seinem Maschinengewehr so positioniert, damit er im Notfall auf den Parkplatz rüber schiessen könnte.»
Der pensionierte Bodenleger hätte es zum Zeitpunkt ziemlich mit der Angst zu tun bekommen, denn man hätte ihm nicht erklärt, was genau los sei: «Mein Herz hat geklopft wie wild.» Viele zivile Einsatzfahrzeuge seien vor der Liegenschaft gestanden. Einige Zeit später sei «ein Mann mit langen Haaren» in Handschellen abgeführt worden, berichtet der Rentner weiter: Es sei sein neuer Nachbar gewesen, Jeremy A.* (34). Doch wer ist dieser Mann und was hat er auf dem Kerbholz?
Impf-Chef entführt und erpresst
Dafür muss man ein wenig ausholen. Das Drama beginnt am 31. März: Ein Unbekannter entführt Impf-Chef Christoph Berger (59) und hält ihn über eine Stunde lang fest. Laut Berger soll ihn der Täter «mit der Forderung eines substanziellen Geldbetrags konfrontiert» haben. Laut mehrerer Quellen ging es um einen sechsstelligen Betrag, wie CH Media berichtet. Demnach sei es nicht um Bergers Funktion als Impfchef gegangen. Einen Bezug zu Corona habe es nicht gegeben.
Nachdem der Beamte dem Entführer die Erfüllung seiner Forderung zugesichert hatte, liess er ihn wieder frei. Sofort wandte sich das Entführungsopfer an die Polizei.
Diese ermittelt den Kriminellen: Den Deutschen Kevin W.* (†38) aus Wallisellen ZH. Als ihn eine Spezialeinheit vergangenen Mittwochabend verhaften will, kommt es zum tödlichen Polizeieinsatz. Kevin W. und seine Freundin Maria S. (†28) kommen dabei ums Leben – Maria S. durch einen Kopfschuss ihres Freundes, Kevin W. durch Polizeikugeln, weil er nach dem Schuss auf seine Freundin auch auf die Beamten gefeuert hatte.
Kevin W. hatte Hilfe von Mittäter Jeremy A.
Kevin W. soll bei der Entführung jedoch nicht allein gehandelt haben. Er hatte mutmasslich Hilfe von seinem Geschäftspartner Jeremy A. (34), der laut seinem Profil auf einer Business-Plattform einst selbst Polizeiaspirant war. Wie die Zürcher Staatsanwaltschaft Blick bestätigt, hat das Zwangsmassnahmengericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft für den 34-jährigen Schweizer Untersuchungshaft angeordnet. Seine genaue Rolle in der Tragödie bleibt jedoch vorerst nebulös. Mediensprecher Erich Wenzinger: «Der Tatvorwurf lautet unter anderem auf Beteiligung an der Freiheitsberaubung, Entführung und versuchte Erpressung. Es gilt die Unschuldsvermutung.»
Die Wohnungstüre von Jeremy A. weist nach wie vor deutliche Spuren von der Polizei-Aktion letzte Woche auf: Rund um das Schloss ist das Holz abgesplittert, vermutlich haben die Einsatzkräfte die Türe eingetreten. Die Nachbarn hier kennen den Verhafteten nur vom Sehen: Er sei erst etwa vor einem Monat hergezogen, habe bloss selten gegrüsst. Aufgefallen ist er den Anwohnern mit seinem schnittigen Sportwagen mit Zuger Kennzeichen.
Familie von Verhaftetem im Ungewissen
Jeremy A. war selbstständig: Er gründete gemeinsam mit Kevin W. eine App für Nachbarschaftshilfe, die aber laut den Tamedia-Zeitungen kurz vor dem Ruin stand – Kevin W. hätte hohe Kredite für das Start-up aufnehmen müssen. Der Festgenommene soll ausserdem ein Flat Earther sein – er glaubt also, die Erde ist eine Scheibe. Ausserdem war er ein aktiver Corona-Skeptiker, marschierte unter anderem im März 2021 an einer Demo in Liestal BL mit.
Die Familie von Jeremy A. sagt am Montag zu Blick, dass sie seine Rolle im Fall nicht genau kenne. «Die Polizei lässt uns Stand jetzt im Unwissen. Alles ist dubios. Wir würden gerne aus erster Hand erfahren, wie es Jeremy geht», so A.'s Bruder. Sie hätten erst durch die Medien erfahren, dass er verhaftet worden sei.
Polizei versuchte, Kevin W. noch zu reanimieren
Auch zum tödlichen Einsatz bei Kevin W. sind unterdessen neue Details bekannt geworden. Wieso er beim Zugriff an seinem Wohnort im Kanton Zürich zuerst auf seine Freundin und dann auf die Beamten schoss, ist nach wie vor unklar. Ein neues Video vom Ort des Geschehens in Wallisellen zeigt, wie schwer bewaffnete Einsatzkräfte der Spezialeinheit Diamant am Mittwochabend in voller Montur um einen schwarzen BMW rannten und den sich noch bewegenden, aber in sich zusammengefallenen Mann aus dem Auto zerrten.
Dort wurde er noch in Handschellen gelegt, wie ein Augenzeuge gegenüber Blick schildert. Daraufhin hätten ihm die Polizisten das Shirt ausgezogen oder aufgeschnitten. «Danach haben sich zwei Polizisten rund 15 Minuten lang bei der Herzmassage abgewechselt.» Schliesslich hätten die Polizisten aufgegeben und ihm ein Tuch über den Kopf gezogen. Die Szene sei «sehr surreal gewesen», erinnert sich der Augenzeuge. «Es war wie bei einem Krimi am Fernsehen.»
*Namen geändert
**Name bekannt