CSS schikaniert Versicherten
Rollstuhlfahrer erhält Physio erst nach teurem Untersuch

Matyas Sagi-Kiss sitzt im Rollstuhl und ist seit seiner Kindheit in Therapie. Als die Physio-Verordnung verlängert werden sollte, schickte ihn die Krankenkasse zum Neurologen, um die Notwendigkeit dafür zu überprüfen – und erzielte damit ein Eigentor.
Publiziert: 14.01.2024 um 00:03 Uhr
|
Aktualisiert: 14.01.2024 um 17:18 Uhr
1/5
Matyas Sagi-Kiss mit Assistenzhund Ginger. Er sitzt seit seiner Jugend im Rollstuhl.
Foto: Keystone
Blick_Portrait_1606.JPG
Thomas SchlittlerWirtschaftsredaktor

Seit mehr als 35 Jahren geht Matyas Sagi-Kiss (40) jede Woche für zwei Stunden in die Physiotherapie: «Die Behandlung hilft mir, Schmerzen zu verhindern, meine Selbständigkeit zu stärken – und hoffentlich auch in Zukunft aufrechtzuerhalten.»

Seit seiner Jugend sitzt Sagi-Kiss im Rollstuhl – er ist mit Zerebralparese zur Welt gekommen, einer frühkindlichen Hirnschädigung. Die Symptome: Arme und Beine sind von einer spastischen Lähmung betroffen, die Kontrolle von Rumpf und Kopf ist gestört.

Trotz seiner eingeschränkten Mobilität konnte sich Sagi-Kiss ein beeindruckendes Mass an Unabhängigkeit erarbeiten. Der studierte Wirtschaftsjurist ist Präsident der Behindertenorganisation Pro Infirmis Zürich und vertritt die SP als Vizepräsident im Bezirksrat des Kantons.

Abklärung im neurologischen Kompetenzzentrum

Im Sommer 2023 ordnete seine Hausärztin eine Verlängerung der physiotherapeutischen Langzeitverordnung an – wie schon oft in den vergangenen Jahren. Bisher hatte Sagi-Kiss’ Krankenkasse CSS die Fortsetzung der Therapie stets fraglos bezahlt. Doch dieses Mal stellte der «vertrauensärztliche Dienst» der CSS Sinn und Umfang der Therapie plötzlich infrage – um die «Leistungspflicht» der Krankenkasse zu prüfen.

Weil die CSS mit den Ausführungen der Hausärztin von Sagi-Kiss nicht zufrieden war, musste der Versicherte zur Abklärung in ein neurologisches Kompetenzzentrum in der Stadt Zürich.

«
«Ein Leben ohne Physio kann ich mir nicht vorstellen.»
Matyas Sagi-Kiss
»

Von den unabhängigen Neurologen wollte die Krankenkasse unter anderem wissen, welche «konkreten Ziele» mit der Physiotherapie verfolgt werden sollen. Zudem stellten die Verantwortlichen die «hochfrequente Therapie» infrage und verlangten eine Begründung, warum die Frequenz nicht reduziert werden könne.

Krankenkasse sei verpflichtet, Stichproben durchzuführen

Als Sagi-Kiss das Schreiben der CSS zu Gesicht bekam, glaubte er sich im falschen Film. «Ohne Ärzte komme ich relativ gut aus, doch ein Leben ohne Physiobehandlung könnte ich mir nicht vorstellen», sagt er. Es ärgert ihn deshalb, dass die «Leistungsprüfer» der CSS überhaupt auf die Idee kommen, hier sparen zu können.

Die CSS rechtfertigt ihr Vorgehen mit dem «gesetzlichen Prüfauftrag». Demnach müssten Leistungen, die durch das Krankenversicherungsgesetz (KVG) abgedeckt seien, den sogenannten WZW-Kriterien entsprechen – Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit.

«Eine KVG-Versicherung ist gesetzlich verpflichtet, die Leistungspflicht zu klären», sagt eine Sprecherin des Unternehmens gegenüber Blick. Auch wenn es sich um chronische Krankheiten handle, müsse von Zeit zu Zeit eine Prüfung der WZW-Kriterien erfolgen. «Wir stellen die Notwendigkeit einer physiotherapeutischen Betreuung bei chronischen Erkrankungen nicht grundsätzlich infrage», so die Sprecherin. Man sei aber verpflichtet, von Zeit zu Zeit Stichproben durchzuführen.

«
«Eine solche Überprüfung bei chronisch Kranken ist für die Betroffenen unnötig mühsam.»
Matyas Sagi-Kiss
»

Sagi-Kiss kann mit dieser Begründung nicht viel anfangen. Für ihn ist klar: «Eine solche Überprüfung bei chronisch Kranken ist für die Betroffenen unnötig mühsam.» Zudem weist er darauf hin, dass die Untersuchung beim Neurologen zusätzliche Kosten verursache: «In meinem Fall hat die Abklärung 600 Franken gekostet. Das ist hinausgeworfenes Geld, das am Ende von den Prämienzahlern berappt werden muss.»

Neurologen empfehlen sogar vier Stunden pro Woche

Ironie der Geschichte: Die Neurologen, welche die CSS mit der Überprüfung der Langzeit-Physiotherapieverordnung beauftragt hatten, bestätigten deren Bedarf unmissverständlich. Mehr noch: Sie regten sogar an, dass bei Sagi-Kiss unter «medizinischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten» eine «hochfrequente, langzeitphysiotherapeutische Behandlung» von vier Stunden die Woche angezeigt sei – also doppelt so viel wie bisher.

Kampf um Physio-Tarife

Der Verband Physioswiss hat Anfang Jahr eine Aufsichtsbeschwerde gegen das BAG eingereicht. Die Beschwerde richtet sich gegen eine neue Tarifstruktur. Ab Januar 2025 sollen demnach die heute gültigen Pauschalen für die Abgeltung von Physiotherapie-Sitzungen durch ein abgestuftes System ersetzt werden. Laut Physioswiss würde das zu einer «prekären Verschlechterung eines bereits derzeit signifikant unterfinanzierten Leistungsbereichs» führen.

Der Verband Physioswiss hat Anfang Jahr eine Aufsichtsbeschwerde gegen das BAG eingereicht. Die Beschwerde richtet sich gegen eine neue Tarifstruktur. Ab Januar 2025 sollen demnach die heute gültigen Pauschalen für die Abgeltung von Physiotherapie-Sitzungen durch ein abgestuftes System ersetzt werden. Laut Physioswiss würde das zu einer «prekären Verschlechterung eines bereits derzeit signifikant unterfinanzierten Leistungsbereichs» führen.

Vor diesem Hintergrund ist die CSS plötzlich bereit, die bisherige Therapie ihres Versicherten weiterhin zu übernehmen. «Unser vertrauensärztlicher Dienst (...) empfiehlt weiterhin die Frequenz von zwei bis drei Mal aufwendiger Therapie pro Woche für weitere zwei Jahre», sagt eine Sprecherin.

Die schriftliche Kostengutsprache sei diese Woche erstellt und versandt worden.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?