Keine chinesische Medizin mehr
Groupe-Mutuel-CEO will Leistungskatalog stark reduzieren

Weniger Leistungen in der Grundversicherung, effizientere Krankenkassen und weniger Spitäler: Thomas Boyer, CEO des drittgrössten Schweizer Krankenversicherers, fordert eine Gesundheits-Taskforce.
Publiziert: 08.10.2023 um 01:30 Uhr
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Aktualisiert: 08.10.2023 um 08:56 Uhr
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Fordert mehr Mut von der Politik für unpopuläre Entscheide: Groupe-Mutuel-CEO Thomas Boyer.
Foto: Darrin Vanselow
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Lino SchaerenRedaktor

Das Schwarzpeterspiel hat im Gesundheitswesen aufgrund des Prämienschocks Konjunktur. Die Akteure schieben sich gegenseitig die Schuld für die hohen Kosten zu. Groupe-Mutuel-CEO Thomas Boyer will dem ein Ende setzen. Der Chef der drittgrösssten Schweizer Krankenkasse fordert den Einsatz einer Gesundheits-Taskforce nach dem Vorbild der Covid-Pandemie. SonntagsBlick hat ihn in Lausanne zum Interview getroffen.

Herr Boyer, die Prämienexplosion bringt den Mittelstand in Bedrängnis. Wo sehen Sie Handlungsmöglichkeiten, um die Kostenspirale endlich zu bremsen?
Thomas Boyer: Der Prämienschock zeigt: Wir haben die Kosten nicht mehr im Griff. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Erstens gibt es Nachholbedarf. Zwischen 2019 und 2022 haben wir die Prämien stabil gehalten, während die Gesundheitskosten um zehn Prozent gestiegen sind. Der oberste Gesundheitsdirektor Lukas Engelberger hat letzte Woche in Ihrer Zeitung gesagt, die Krankenkassen hätten sich bei den Prämien verschätzt.

Und, haben Sie?
Nein. Wir haben die Prämien bewusst unterschätzt – auf Druck der Politik. Wir wurden angehalten, die Reserven zu reduzieren. Deshalb war klar, dass die Prämien die Kosten in diesem Jahr nicht decken würden. Zweitens: Die Kosten sind in diesem Jahr viel stärker gestiegen als erwartet.

Was ist zu tun?
Kurzfristig können wir bei den Medikamentenpreisen ansetzen. Wir verwenden rund 50 Prozent weniger Generika als andere Länder und zahlen dafür das Doppelte. Mittelfristig müssen wir bei der Spitalplanung ansetzen. Mit rund 580 Standorten haben wir nach Frankreich die höchste Spitaldichte in Europa. Das ist viel zu viel! Wir müssen weg von der kantonalen Spitalplanung. Die Spitallandschaft für die Schweiz muss überregional, wenn nicht sogar zentral definiert werden.

Sie unterstützen damit die Forderung von Santésuisse-Präsident Martin Landolt, dass die Kantone in der Spitalplanung entmachtet werden sollen?
Nicht jeder Kanton kann in seinen Spitälern alles anbieten. Das ist nicht effizient und die Qualität leidet gerade in Zeiten des Fachkräftemangels. In der Schweiz gibt es inzwischen mehr Spezialisten als Hausärzte. Der Zugang zum Gesundheitssystem ist deshalb für viele nicht mehr gewährleistet. Auch in der Ausbildung läuft einiges schief.

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«Ich bin gerne bereit, über bessere Löhne für Hausärzte zu reden.»
Thomas Boyer, CEO von Groupe Mutuel
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Die Spezialisierung ist gewollt, eine Karriere als Spezialistin ist wirtschaftlich interessanter als die als Hausarzt.
Ich bin gerne bereit, über bessere Löhne für Hausärzte zu diskutieren, aber dann müssen wir gleichzeitig bei den Spezialisten Abstriche machen. Ausserdem brauchen wir eine Überarbeitung des Leistungskatalogs – und zwar ohne Tabus. Neue Leistungen sollten nur aufgenommen werden, wenn gleichzeitig eine andere Leistung gestrichen wird. Nehmen wir als Beispiel die Psychologen. Ich sage nicht, dass es falsch war, dass sie seit dem 1. Januar direkt mit uns abrechnen können. Aber das kostet uns 300 Millionen zusätzlich pro Jahr. Ein Prozent der Prämienerhöhung für 2024 ist allein deshalb nötig. Die Frage ist: Welche Leistungen, die heute im Katalog sind, gehören nicht zwingend in die Grundversicherung?

Persönlich

Thomas Boyer (52) wurde im Sommer 2019 zum CEO der Groupe Mutuel ernannt. Zuvor arbeitete er seit 2013 bei der Mobiliar, zuletzt als Mitglied der Geschäftsleitung. Länger tätig war er zudem für Swiss Life und McKinsey. Der Vater von drei Kindern hat einen Master in Betriebswirtschaft von der Uni Lausanne, stammt aus Freiburg und lebt in Genf.

Thomas Boyer (52) wurde im Sommer 2019 zum CEO der Groupe Mutuel ernannt. Zuvor arbeitete er seit 2013 bei der Mobiliar, zuletzt als Mitglied der Geschäftsleitung. Länger tätig war er zudem für Swiss Life und McKinsey. Der Vater von drei Kindern hat einen Master in Betriebswirtschaft von der Uni Lausanne, stammt aus Freiburg und lebt in Genf.

Soll der Leistungskatalog also nicht nur gedeckelt, sondern reduziert werden?
Nehmen wir zum Beispiel die Akupunktur oder generell die chinesische Medizin: Ich glaube nicht, dass wir für solche Leistungen Solidarität in der Grundversicherung brauchen.

Sie wollen die Alternativmedizin aus der Grundversicherung streichen?
Nicht alle Behandlungsmethoden. Wir wissen aus einer Studie, die der Bundesrat in Auftrag gegeben hat, dass 20 bis 25 Prozent der Leistungen unnötig oder ineffizient sind. Diese sollten man aus dem Katalog streichen. Es braucht endlich die Einsicht, dass wir nicht alles bei gleich bleibenden Kosten haben können.

«Ich finde die Krankenkasse kompliziert»
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Und langfristig? Muss das Gesundheitswesen umgebaut werden?
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Heute wird der Preis einer Behandlung definiert, nicht aber die Menge. Der Leistungserbringer kann die Anzahl der Behandlungen selbst bestimmen. Deshalb kompensieren Spitäler finanzielle Verluste durch mehr Behandlungen. Es braucht neue Finanzierungsmodelle, welche die erbrachte Qualität und nicht die Zahl der Behandlungen belohnen. Wir testen derzeit verschiedene Ideen aus dem Ausland.

Zum Beispiel?
Wir könnten ein Gesundheitskapital pro Kopf zur Verfügung stellen. Ob jemand gesund ist oder nicht, spielt dann keine Rolle mehr. Oder wir vergüten die Qualität der Leistungen nach klar definierten Kriterien. Zurzeit führt die Groupe Mutuel ein entsprechendes Pilotprojekt mit dem Universitätsspital Basel und dem Hôpital de La Tour in Genf durch.

Sie fordern eine Gesundheits-Taskforce nach dem Vorbild der Covid-Pandemie. Was soll das bringen?
Die Akteure im Gesundheitswesen müssen aufhören, sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Wir alle tragen Verantwortung. Dass die Kosten aus dem Ruder laufen, belastet die Familien und den Mittelstand schwer. Für sie müssen wir handeln. Ich fordere, dass sich Kantone, Bund, Versicherer, Spitäler, Ärzte, Patientenorganisationen und Pharma an einen Tisch setzen und gemeinsam Massnahmen erarbeiten. Am Schluss muss das Parlament den Mut haben, zu entscheiden.

An Vorschlägen mangelt es nicht. Nur blockieren sich die Akteure in der Gesundheitspolitik seit Jahren gegenseitig.
Seit 13 Jahren streiten wir über eine einheitliche Spitalfinanzierung. Unmöglich! Preisüberwacher Stefan Meierhans hat im SRF-Club eine Liste mit über 30 Massnahmen zur Kostendämpfung gezeigt, die bereit auf dem Tisch liegen, aber von der Politik nicht umgesetzt werden. Das darf nicht sein. Wir müssen uns endlich zusammenraufen und gemeinsam Lösungen finden.

Dabei sind auch die Krankenkassen gefordert, die im Bundeshaus über eine grosse Lobby verfügen.
Ja, aber die grösste Lobby haben im Moment die Kantone. Die einheitliche Spitalfinanzierung wird im Ständerat seit Jahren von den Kantonsvertretern blockiert. Die Kantone haben einen grossen Rollenkonflikt: Sie machen die Spitalplanung, haben ein Interesse, die Spitäler profitabel zu halten, bestimmen die Zulassung der Ärzte und legen gleichzeitig die Preise fest.

Sie wollen dem Schwarzpeterspiel ein Ende setzen, dabei spielen Sie selber munter mit und zeigen mit dem Finger auf die Kantone. Passt das zusammen?
Es geht mir nicht darum, den Kantonen die Schuld zu geben, sondern die Probleme zu benennen. Die Direktorin des Spitalverbands hat im SonntagsBlick behauptet, ohne Marketing und Wettbewerb könnten die Krankenkassen Milliarden sparen. Diese Zahlen stimmen nicht. Doch was bringt uns dieses Gezänk? Die Akteure zeigen mit dem Finger aufeinander, um nicht selbst aktiv werden zu müssen.

Das gilt auch für die Krankenkassen.
Auch wir haben eine grosse Verantwortung und nicht alles richtig gemacht. In der Schweiz sind wir immer mit Kompromissen weitergekommen. Das haben wir in den letzten Jahren leider aus den Augen verloren. Die Vernunft muss einkehren, und zwar bei allen Akteuren im Gesundheitswesen.

Sie sagen, auch die Versicherer hätten Fehler gemacht. Welche denn?
Wir werden dafür kritisiert, dass wir zwei Branchenverbände unterhalten. Das geht tatsächlich nicht. Wir sollten uns auf eine starke Vertretung einigen. Zudem müssen auch die Versicherer weiter Kosten senken, innovativ sein und neue Modelle entwickeln. Es braucht dringend Bewegung im ganzen System, sonst ist es zu spät. Unser Gesundheitswesen verdient mehr als ein Credit-Suisse-Szenario, in dem wir in letzter Sekunde die einzig verbleibende Lösung ergreifen müssen.

Die Forderung nach einer Einheitskasse findet in der Bevölkerung Anklang, wie Umfragen zeigen. Eine beunruhigende Perspektive für die Krankenkassen?
Würden die Politikerinnen und Politiker im Parlament so viel Energie aufwenden, wie sie jetzt im Abstimmungskampf mit ihren Ideen in den Medien verbreiten, würde es unserem Gesundheitssystem bedeutend besser gehen. Leider wird die Debatte zu oft ideologisch und demagogisch geführt. Mit der Einführung einer Einheitskasse würden wir weitere Jahre verlieren, ohne das Problem der hohen Gesundheitskosten zu lösen.

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«Eine Diskussion über Managerlöhne ist eine Nebelkerze.»
Thomas Boyer, CEO von Groupe Mutuel
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Mit den Prämien sind in den letzten Jahren auch die Managerlöhne bei den Krankenkassen stark gestiegen. Sie verdienen mit knapp 800'000 Franken deutlich mehr als eine Bundesrätin. Haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Leute, die immer mehr zur Kasse gebeten werden, darüber ärgern?
Die Groupe Mutuel ist weit mehr als eine Krankenkasse. Wir sind einer der grössten Versicherer für Unternehmen, sind im Einzelleben und in der beruflichen Vorsorge tätig. Wir erwirtschaften zwei Milliarden Prämien ausserhalb der Grundversicherung. Mein Lohn wird, wie derjenige aller Mitarbeitenden, anhand von Branchenvergleichen festgelegt. Die Diskussion um die Managerlöhne ist eine Nebelkerze. Ein Ablenkungsmanöver. Werden sie gedeckelt, sinken die Prämien um ein paar Rappen. Ist das wirklich die grosse Herausforderung im Gesundheitswesen?

Alain Berset tritt Ende Jahr nach zwölf Jahren als Gesundheitsminister zurück. Welche Bilanz ziehen Sie aus seiner Amtszeit?
Alain Berset hat viele Themen an die Hand genommen und Führungsstärke bewiesen. Er hat gemacht, was er alleine bewirken konnte, zum Beispiel 2018 die Tarife angepasst. Das hat dazu geführt, dass die Kosten ausnahmsweise nicht gestiegen sind. Ich habe grossen Respekt vor seiner Arbeit. Aber jetzt braucht es neue Dynamik. Der bevorstehende Wechsel im Gesundheitsministerium ist eine Chance dafür. Von Bersets Nachfolge erhoffe ich mir frische Ideen. Es braucht jemanden, der die Akteure zusammenbringt. Ohne Tabus und ohne Ideologie.

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