«Geschichte, jetzt!»
Das Krankenkassen-Paradox

Die Historikerin Britta-Marie Schenk und der Historiker Daniel Allemann von der Universität Luzern umreissen die Entstehungsgeschichte der Krankenkasse und erklären, warum die Krankenkasse früher solidarischer war.
Publiziert: 01.11.2023 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 01.11.2023 um 15:23 Uhr
Britta-Marie Schenk und Daniel Allemann

Krankenkassen sind solidarisch. Gesunde zahlen für Kranke, Junge für Alte, und der Staat subventioniert die finanziell Schwächeren. Krankenkassen sind aber auch ein Schaufenster sozialer Ungerechtigkeit. Wer versichert ist, muss den Arztbesuch meist trotzdem zahlen – Stichwort Selbstbehalt. Gutverdiener können sich lukrative Zusatzversicherungen und das private Spitalzimmer mit Chefarztvisite leisten. Und Arbeitgeber beteiligen sich hierzulande nicht an der Krankenversicherung. Wie kam es zu diesem Paradox?

Am Anfang war das antike Hospital. Hier wurden Kranke gepflegt und Bedürftige versorgt – christliche Barmherzigkeit dank kirchlichem Vermögen. Die ersten Krankenkassen kamen im Mittelalter auf: Handwerker zahlten regelmässig Beiträge in den Unterstützungsfonds ihrer Zunft, damit ihre Familien im Krankheits- und Todesfall abgesichert waren. Für Arbeiter im Bergbau gab es sogenannte Knappschaften, die ähnlich funktionierten. Mittelalterliche Solidarität in der eigenen Bubble.

Mit der Industrialisierung kamen die Fabriken, und dort waren Unfälle alltäglich. Hilfskassen unterstützten verunfallte Arbeiter aber bloss mit einem Taggeld. Das beschäftigte auch Bundesbern. Nationalrat Ludwig Forrer und sein Wissenschaftskumpel Hermann Kinkelin sprachen Klartext: Eine Unfallversicherung gehe nicht ohne Krankenversicherung. 1899 beschloss das Parlament dann die sozialpolitische Sensation: eine obligatorische Kranken- und Unfallversicherung, freie Arztwahl und eine Arbeitgeberbeteiligung. Der Downer folgte an der Urne: Das Stimmvolk versenkte das Gesetz und wählte Eigenverantwortung statt sozialer Verantwortung. Die Arbeitgeberbeteiligung war passé, die Krankenkasse blieb freiwillig – und für viele unerschwinglich.

Auch die Wirtschaft lobbyierte, und zwar mit unterschiedlichen Interessen. In den 1950er-Jahren wollte die Pharmaindustrie das Patentgesetz ändern, um länger vom Monopol auf teure Medikamente zu profitieren. Doch die Krankenkassen witterten steigende Kosten und drohten mit dem Referendum. Fast hätte die Pharmalobby aufgegeben, bis sie in letzter Minute von der Uneinigkeit der Krankenkassen erfuhr und das neue Patentgesetz doch noch durchboxte. Der Bevölkerung blieb der Kuhhandel nicht verborgen: Sie beschimpfte die Krankenkassen als Totengräber der Demokratie – und die Pharmafirmen waren schon wieder fein raus.

Ab den 1970er-Jahren wurde es turbulent: Wegen der Ölkrise stand es schlecht um den Bundeshaushalt. Der Staat kürzte das Krankenkassenbudget, und die Kassen wälzten die Kosten auf die Versicherten ab: Prämienexplosion! Gleichzeitig baute der Bund die Krankenversicherung mit neuen Leistungen in der Alten- und Krankenpflege aus und führte Prämienverbilligungen für Geringverdiener ein. Mit grosser Verspätung gab die Schweiz in Sachen Sozialstaat richtig Gas. Die Pflichtversicherung für alle kam schliesslich 1996 – fast ein Jahrhundert nach dem ersten Versuch.

1899 ist sogar noch mehr drin gewesen, nämlich eine Kostenbeteiligung der Arbeitgeber. Davon spricht heute niemand mehr. Eine wirklich solidarische Krankenkasse muss aber mehr bieten als Pflästerlipolitik.

Warum gibt es in der direktesten aller Demokratien keine breite Mehrheit für einkommensabhängige Prämien, die auch die Reichen stärker belasten – und für die Abschaffung des Selbstbehalts? Geht es Herrn und Frau Schweizer einfach zu gut?

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