«Es ist nicht zu glauben, wie warm es hier ist»
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Bergsteiger auf dem Breithorn:«Es ist nicht zu glauben, wie warm es hier ist»

Bröckelnde Berge, riskante Touren
«Das ist doch Wahnsinn!»

Schneebrücken schmelzen, Gletscherspalten klaffen, Steine stürzen: Kein Wunder, wenn Bergführer lieber im Tal bleiben. Besuch in der Gefahrenzone.
Publiziert: 25.07.2022 um 08:17 Uhr
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Aktualisiert: 25.07.2022 um 10:10 Uhr
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Johanna und Pascal sind rechtzeitig retour, andere steigen noch hoch: «Das ist doch Wahnsinn!»
Foto: ANDREA SOLTERMANN
Tobias Marti

Es ist kaum zu glauben, dass er den Tag bisher heil überstanden hat. Schwer atmend wankt der 77-jährige Louis-Jean vom Gipfel des Breithorns (4164 Meter) herunter. «Ich bin älter als Methusalem», scherzt der US-Amerikaner aus Boston.

Da ist es kurz nach Mittag und dem guten Mann schmilzt bereits der Boden unter den Steigeisen weg. Der Amerikaner ist allein am Berg unterwegs, weder informierte er sich im Tal über die Lage noch sichert ihn ein Seil vor Gletscherspalten: «Ich mache das seit Jahren», winkt er ab.

Schützende Schneeschicht ist weg

«Schreiben Sie», beschwört der Alpinist dann aber doch: «Etwas geht hier oben vor. Alles schmilzt, die Route ist überschwemmt. Das ist nicht normal.»

Bereits um acht Uhr stöhnten unten in Zermatt VS die Einheimischen schon zuvor über die Gluthitze. Weiter oben stirbt der Theodulgletscher in der Morgensonne. Die schützende Schneeschicht ist längst weg, Hunderte Rinnsale und Bächlein glitzern. Was, bittere Pointe, wunderschön aussieht.

Noch weiter oben beim Klein Matterhorn, auf der höchstgelegenen Skipiste Europas (3899 Meter), wo im Sommer Ski-Nationalkader aus aller Welt trainieren und um die frühesten, weil besten Trainingszeiten zanken, schultern die Ersten kurz nach zehn Uhr bereits wieder ihre Latten und machen sich auf den Heimweg. Wo Eis war, ist jetzt Pflotsch. Längst nicht alle Gletscherpisten sind geöffnet.

Nichts ist normal

Zum Trost ein Blick hinauf zum ewigen Schnee des Breithorns. Der Berg gilt als alpinistische Einstiegsdroge. In drei bis vier Stunden ist die Tour geschafft und man zählt zum exklusiven Zirkel der hochalpinen Gipfelstürmer. Unter normalen Bedingungen. Nur ist hier gerade nichts normal.

Es geht schon mit der Farbe los. Das Breithorn-Plateau hat einen seltsam schmutzigen Gelbstich. Saharastaub, zwei Mal blies es den 2022 schon hinauf, der Effekt ist der gleiche wie der eines schwarzen T-Shirts in der Badi.

Wo alles schmilzt, brechen auch Schneebrücken weg, öffnen sich neue Gletscherspalten, sinkt man hüfttief in den Pflotsch, was Alpinisten in etwa so schätzen wie Durchfall in der Hörnlihütte kurz vor dem Matterhorn-Aufstieg.

Vernünftige kehren um halb elf zurück

Die Vernünftigen kommen bereits um halb elf wieder vom Breithorn retour. Beängstigend, wie viel Wasser herunterfliesst, meinen Johanna (29) und Pascal (35) aus Greyerz FR. Noch immer stapfen Kollegen gut gelaunt an ihnen vorbei den Berg hinauf. «Das ist doch Wahnsinn!» Das Paar schüttelt den Kopf.

Ein paar Höhenmeter weiter an der Viertausender-Grenze hat sich Annelore Furrer gerade einen Traum erfüllt. Wie viele Rentner zog dieser Berg auch sie magisch an. Gerne würde sie noch vom Gipfelglück schwelgen, doch ihr lokaler Bergführer drängt zur Eile. Er weiss: Höhe und Hitze lassen Senioren gerne umkippen. Es gibt schlechte Bedingungen und sehr schlechte. Das Breithorn, dieser Bubi-Berg, mausert sich gerade zum Teufelsritt.

In einer Passage sind die Gletscherspalten auf gut sieben Meter angewachsen. Darunter rauscht der Gletscher wie ein Wildbach. Die Schneebrücke, die über den steilen Schlund führt, hat sich auf einen schmalen halben Meter zusammengezogen. Das Alpinistenvolk staut sich.

Helikopter der Air Zermatt im Anflug

Da rattert auch schon ein Helikopter der Air Zermatt heran. Ein Retter wird abgeseilt. Rasch macht eine absurde Meldung die Runde: Ein Bergführer hat sich den Fuss verdreht und muss ausgeflogen werden. Seine vier Kundinnen treten den Rückweg ohne ihn an. Man kann sich vorstellen, wie das ist, wenn einem der Bergführer noch am Berg abhandenkommt.

Am Mittag lösen sich auch noch die ersten Felsbrocken und stürzen rumpelnd auf den Gletscher.

Die Erderwärmung, man muss es sagen, verändert die Alpen mehr als rasant. Sogar der Berg der Berge, das Matterhorn zerbröselt. Auf dessen italienischer Seite sind den Bergführern seit Mitte Woche die Risiken zu gross. Sie steigen nicht mehr auf.

Steinschlag durch Hitze ausgelöst

So geht das überall. Die Grindelwalder Bergführer verzichten seit Mittwoch auf die Jungfrau BE. Der Steinschlag auf deren Normalroute, ausgelöst durch Hitze und Bergsteiger, wurde lebensgefährlich. Und die Route auf der Ostseite ist schon länger durch einen Felsabbruch zerstört.

Auch die Zermatter Bergführer sagen zunehmend Touren ab. Die Zwillingsgipfel Pollux und Castor erklimmt keiner mehr: «Es ist hart, wenn man solche Einbussen hat. Aber das zeigt auch, dass die Vernunft da ist», sagt Anjan Truffer, Rettungschef bei Air Zermatt. Seit 2003 hätten sie nun wieder einmal «ein extremes Wetter».

Damals lösten sich am Matterhorn Hunderte Kubikmeter Felsmasse. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt. Hubschrauber der Air Zermatt brachten 70 Bergsteiger in Sicherheit. Das «Horu» wurde vorläufig gesperrt. Die Meldung ging um die Welt.

Trockener Winter mit wenig Niederschlag

Nun droht sich die Situation zu wiederholen: ein extrem trockener Winter, wenig Niederschlag, zu hohe Temperaturen. Rettungschef Anjan Truffer: «Auch wenn die einheimischen Bergführer nicht mehr gehen, sind immer noch irgendwelche Verrückte unterwegs.»

Einer von dieser Sorte hockt gerade völlig erschöpft in der Gefahrenzone, macht aber gute Miene zum bösen Spiel und überlegt, wie er hier die Kurve kriegt.

Der Tourenskifahrer – braun gebrannt im giftgrünen Tenue – versuchte es fahrend, gehend, aber nichts hat funktioniert. Da fällt ihm etwas ein. Er setzt sich hin und rutscht auf dem Hosenboden hinunter, wie die Kleinen beim Pingu-Schlepplift, nur eben von einem Viertausender.

«Letzte Woche ging es noch», sagt der Italiener entschuldigend mit Alberto-Tomba-Grinsen. Dass sich in einer Woche die Lage komplett ändern kann, war ihm nicht bewusst.

Das läuft hier alles unter Eigenverantwortung. Denn in der Schweiz sperrt niemand vorsorglich einen Berg ab.

Obwohl es vielleicht gescheiter wäre …

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