Die Corona-Pandemie hat schon für viele schlechte Nachrichten gesorgt – und für viele sehr schlechte. Diese Woche kam ausnahmsweise eine gute hinzu, sie stammte aus Deutschland: Der Corona-Impfstoff von Biontech und Pfizer soll eine märchenhafte Schutzwirkung von 90 Prozent haben – und so gut wie keine schweren Nebenwirkungen. Das Ende der Seuche naht, jubelten Wissenschaftler, Politiker, Medien und Anleger.
Jetzt soll es schnell gehen, auch hierzulande. Die Schweiz bereitet sich auf die grösste Impfaktion ihrer Geschichte vor. Gut 13 Millionen Impfdosen sind bestellt, Messehallen werden gebucht, Impfzentren eingerichtet, mobile Equipen ausgebildet.
Und dann sträubt sich, wer eigentlich beglückt sein sollte: die Bevölkerung. «Lieber zuerst darüber nachdenken.» – «Am Anfang sicher nicht.» – «Besser abwarten.» So antworteten Passanten in Zürichs Innenstadt leicht gequält, als Blick TV sie diese Woche fragte, ob sie sich bald impfen lassen würden.
Mit dieser Haltung sind sie nicht allein: Nur jeder Zweite will sich hierzulande gegen Corona immunisieren lassen, wie eine Umfrage von Tamedia zeigte. Ein erstaunlich tiefer Wert, auch im internationalen Vergleich. Eine vom WEF durchgeführte Umfrage zeigt: In Italien, Spanien, Schweden und Deutschland wollen sich immerhin zwei von drei Bürgern gegen Covid-19 impfen lassen.
Wer wird zuerst geimpft?
Bisher wurde vor allem darüber diskutiert, wer sich zuerst impfen lassen darf: Alte oder Kranke, Ärzte oder Pfleger. In dieser Reihenfolge sieht es das Pandemiegesetz vor. Was aber, wenn der Grossteil der Bevölkerung gar nicht will?
Bei der Grippeimpfung ist dies bereits der Fall. Wie fast überall in Europa lassen sich auch in der Schweiz immer weniger Senioren gegen Influenza-Viren impfen. Von 40 Prozent sank die Zahl innert fünf Jahren auf 29 Prozent, wie die Weltgesundheitsorganisation WHO beklagt. Störrische, törichte Senioren? Mitnichten.
Auch das Gesundheitspersonal wehrt sich energisch. In der Deutschschweiz sind lediglich rund 20 Prozent der Spitalmitarbeiter gegen Grippe geimpft, in der Romandie immerhin (und nur) 40 Prozent. Der Tenor: Das Personal will einen gesunden und auf natürliche Weise widerstandsfähigen Körper, will autonom über diesen entscheiden und fühlt sich von den Arbeitgebern bevormundet und fehlinformiert.
Derweil planen Impfgegner bereits eine Volksinitiative mit dem Titel «Stopp Impfpflicht» – erstaunlich viel Widerstand gegen das angebliche Wundermittel. Was können die Behörden tun, um die sogenannte Herdenimmunität zu erreichen? Gemäss Experten greift die erst, wenn mehr als 60 Prozent der Bevölkerung geimpft sind.
«In der Schweiz darf gemäss Epidemiengesetz niemand gegen seinen Willen an einen Stuhl gebunden und zwangsgeimpft werden», sagt Bernhard Rütsche (50), Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Luzern. Bund und Kantone können aber ein Obligatorium verfügen: für gefährdete Bevölkerungsgruppen, besonders exponierte Personen und solche, die bestimmte Tätigkeiten ausüben.
Massnahmen bei Verweigerern
Gesundheitspersonal, das sich nicht immunisieren lassen will, muss dann mit Versetzung oder Suspendierung rechnen. Senioren müssten zu Hause oder in Heimen isoliert werden.
Solche Massnahmen seien jedoch sehr delikat, sagt Rütsche: «Der Bund wird sich hüten, Obligatorien anzuordnen. Ebenso die Kantone.» Die Diskussion um die Maskenpflicht habe gezeigt, dass sich die Behörden bei unpopulären Massnahmen zieren, so Rütsche.
Bundesrat Alain Berset (48) hat das jüngst elegant demonstriert. Ja, er könne sich ein Impfobligatorium vorstellen, sagte er. Aber nur, wenn die Kantone dies wollten. Das altbekannte Schwarzer-Peter-Spiel geht in eine neue Runde.
Ein Impfobligatorium für die gesamte Bevölkerung sei nicht vorgesehen, beteuert das BAG. «Wir sollten unbedingt ohne auskommen», sagt auch Lukas Engelberger (45), Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektoren.
Dem Pflegepersonal schweizweit eine Impfung vorzuschreiben, findet Engelberger nicht angebracht: «Ganz ausschliessen kann ich aber nicht, dass ein Obligatorium in einzelnen Kantonen punktuell erfolgt. Etwa in Heimen oder Spitälern, wenn sich dort die Situation nochmals dramatisch zuspitzt.»
«Obligatorium ist der falsche Weg»
Die Aussage alarmiert Yvonne Ribi (44), Geschäftsführerin des Berufsverbands der Pflegenden. «Auch in den einzelnen Betrieben ist ein Obligatorium zurzeit sicher der falsche Weg. So würde zusätzlicher Widerstand erzeugt», sagt sie. Bei der Grippe sei in der Vergangenheit mit viel Druck versucht worden, die Pflegenden zum Impfen zu bewegen.
Das Personal sei sowieso schon massiv gefordert, viele Pflegende schränkten sich dazu in der Freizeit ein und aus der Politik komme wenig Unterstützung, so Ribi. «Jetzt noch ein Obligatorium anzuordnen, wäre der eine Tropfen zu viel.»
Die prekäre Situation im Gesundheitswesen spielt dem Personal für einmal in die Hände. Oder, wie es Ribi ausdrückt: «Wenn Pflegende, die sich nicht impfen lassen wollen, wegen des Obligatoriums anderweitig im Betrieb eingesetzt werden müssen, wer pflegt dann am Ende noch die Menschen?»
Die Schweiz scheint derzeit also von einer flächendeckenden Durchimpfung so weit entfernt zu sein wie von einem eigenen Zugang zum Meer. Christoph Berger (58), Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen, relativiert die Bedeutung der Herdenimmunität: Die strebe man nicht an. Ziel der Impfkampagne müsse sein, die verletzlichsten Bevölkerungsgruppen zu schützen.
Empfehlung unter Bedingungen
Eine Empfehlung will seine Kommission aber erst aussprechen, «wenn wir genau wissen, welcher Impfstoff sich am besten für welche Bevölkerungsgruppe eignet, und erst wenn die Wirksamkeit und Sicherheit der Impfung klar sind».
Christoph Berger glaubt nicht, dass die Präparate einen lebenslangen Schutz vor Covid-19 bieten. Daher müssten die Impfungen immer wieder aufgefrischt werden. Wenn die Bevölkerung jedes Jahr aufs Neue antraben müsste, macht das die Übung nicht einfacher.
«Wir sind nicht die Impfpolizei», sagt Lukas Engelberger. Der Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektoren hofft, «dass die Leute freiwillig für die Impfung anstehen werden».
Professor Bernhard Rütsche warnt derweil die Behörden, dass gerade beim Impfen eine offene und konsequente Kommunikation wichtig sei: «Ein Debakel wie bei den Masken können wir uns diesmal nicht leisten.»
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