Die Sondierungsgespräche der Schweiz mit der Europäischen Union laufen auf vollen Touren. Schon Ende Juni will Aussenminister Ignazio Cassis (62) die Eckwerte für ein neues Verhandlungsmandat präsentieren.
Ausgerechnet jetzt streicht Staatssekretärin Livia Leu (62) die Segel. Am Mittwoch kündigte die EU-Chefunterhändlerin ihren Rücktritt an. Sie will die Sondierungen noch abschliessen, dann ist sie weg. Im Herbst wird sie Botschafterin in Berlin.
Und Bundesrat Cassis? Sucht zum dritten Mal einen neuen EU-Flüsterer. «Der Aussenminister verbrät Staatssekretäre am Laufmeter», sagt ein Parlamentsmitglied. «Das ist beängstigend.»
Der Posten des EU-Chefunterhändlers hat es allerdings auch in sich. «Es ist ein Verschleissjob», sagt FDP-Ständerat Damian Müller (38). Kritik an Cassis hält Müller für unangebracht. Er nimmt seinen Parteikollegen in Schutz: «Das Dossier wird von der erfahrenen Europa-Abteilung im Aussendepartement bearbeitet, die Verantwortung trägt der Gesamtbundesrat.»
Und dieser kriegt von keiner Seite gute Noten. «Der Bundesrat macht seine Arbeit nicht», sagt SP-Nationalrat Fabian Molina (32). Darum verändere sich mit dem Abgang von Livia Leu auch die Ausgangslage nicht wirklich. «Die Schweiz weiss nicht, was sie will. Deshalb sind auch von Leus Nachfolger keine Wunder zu erwarten.»
Machte Cassis falsche Behauptungen?
Wer übernimmt den Job? Laut Eidgenössischem Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) zählen Eignung, Kenntnisse, Erfahrungen, Kompetenzen und die familiäre Situation der Kandidaten. Klingt ziemlich offen, aber für den Spitzenposten in Brüssel kommt nur eine Handvoll Kandidatinnen und Kandidaten infrage.
Am häufigsten wird derzeit der Name Alexandre Fasel (61) genannt. Der Freiburger erlebte als Botschafter in London den Brexit mit. 2020 wollte er die Leitung der Schweizer Mission bei der EU in Brüssel übernehmen. Fasel galt als gesetzt. Doch als der Gesamtbundesrat zur Ernennung schreiten wollte, erklärte Aussenminister Cassis, Fasel habe gar kein Interesse. Er wolle lieber Botschafter in Kairo werden.
Wollte er nicht – und das sorgte für Tumult in Diplomatenkreisen. Über Cassis entlud sich eine satte Ladung Kritik. Von «Mobbing» und «Stalinismus» war die Rede. Auch Livia Leu, die kurz zuvor das Amt der EU-Chefunterhändlerin angetreten hatte, geriet ins Fadenkreuz. Denn das EDA erklärte freimütig: «Selbstverständlich hat die neue Staatssekretärin bei der Besetzung des Missionschefs in Brüssel mitgewirkt.»
So ging Fasel 2021 nicht nach Brüssel, sondern nach Genf, wo er seither als «Sonderberater für Wissenschaftsdiplomatie» Dienst tut. EU-Botschafterin hingegen wurde Rita Adam (53), Juristin, seit 24 Jahren fürs EDA tätig. 2014 bis 2018 war sie Botschafterin in Tunesien, anschliessend in Rom. Doch in Italien blieb sie – ungewöhnlich – nur zwei Jahre, bevor Cassis sie nach Brüssel schickte.
Und nun werden Alexandre Fasel und Rita Adam neuerlich für den gleichen Job gehandelt. «Fachlich sind beide unbestritten», sagt SVP-Nationalrat Franz Grüter (59), Präsident der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats. «Es gibt allerdings Bedenken, ob sie nicht zu EU-freundlich sind.» Livia Leu habe als Staatssekretärin eisern für die Interessen der Schweiz gekämpft. «Sie sagte immer klar, was die Schweiz will und was nicht.» Leu habe sich in Brüssel nicht verbiegen lassen, sagt Grüter. «Das muss auch für ihre Nachfolger gelten: Sie müssen den Schweizer Hut tragen.»
Wie sehr das auf Monika Schmutz Kirgöz (55) zutrifft, ist offen. Sicher ist: Sie ist eine ernst zu nehmende Kandidatin. Die Politologin trat 1996 ins EDA ein, wurde 2011 Generalkonsulin in Istanbul und 2017 Botschafterin im Libanon. Von da machte sie 2021 einen grossen Sprung – nach Rom, wo sie Rita Adam beerbte.
Diplomat oder Nicht-Diplomat als Nachfolger?
Was Fasel, Adam und Schmutz Kirgöz verbindet: Sie sind Diplomaten. «Das ist ihr Nachteil», sagt ein Nationalrat ganz unironisch. Denn: «Cassis hasst Diplomaten.» Tatsächlich gab es unter Cassis überdurchschnittlich viele Abgänge im Diplomatenkorps. Regelmässig finden Klagen von Abgesandten den Weg an die Öffentlichkeit. Der Aussenminister und seine Botschafter – das ist ein schwieriges Kapitel.
«Die Vorstellung, dass jemand Chefunterhändler wird, der nicht aus der Diplomatie kommt, ist nicht abwegig», sagt Nationalrat Grüter. Er verweist auf den ehemaligen Schindler-Manager Uli Sigg (77), der 1995 Botschafter in China wurde. «Der EU-Chefunterhändler muss harte Verhandlungen führen können», sagt Grüter. «Das könnte auch jemand aus der Wirtschaft sein.»
Oder ein ehemaliger Nachrichtendienst-Chef: Auch der Name von EDA-Generalsekretär Markus Seiler macht in diesen Tagen die Runde in Bundesbern. «Cassis würde am liebsten Seiler nach Brüssel schicken», sagt ein Parlamentsmitglied. «Die Diplomaten gehen ihm auf die Nerven. Seiler hingegen ist uneingeschränkt loyal.»
Kein abwegiger Gedanke, findet Franz Grüter. «Seiler ist sehr intelligent und analytisch. Ausserdem hätte er die nötige Unabhängigkeit.»
Doch die rechte Hand von Cassis will nicht. «Markus Seiler steht nicht zur Verfügung», lässt das EDA ausrichten. Mit der Nachfolge von Livia Leu hat Seiler aber sehr wohl etwas zu tun: «Er leitet die Findungskommission», gibt das Aussendepartement bekannt.
Fasel, Adam, Schmutz Kirgöz – oder doch ein Nicht-Diplomat? Klar ist: Leus Nachfolger steht sofort unter Druck. Die EU will die Verhandlungen bis im Sommer 2024 abschliessen. «Doch das ist nicht realistisch», sagt Franz Grüter. «Ein allfälliges Abkommen muss zuerst durch das Parlament und dann auch noch vor die Stimmbürger. Das dauert mindestens zwei Jahre.»
Ob Leus Nachfolger dann noch im Amt ist? «Es ist ein Kamikaze-Job», sagt Grüter. «Eines der schwierigsten Mandate überhaupt.»