Was wir aus der Pandemie gelernt haben – und was nicht
Die Schweiz hat nach wie vor kein Maskenlager

Vor drei Jahren musste die Schweiz in den ersten Lockdown. Die Pandemie hat das Land verändert – nicht immer nur zum Schlechten. Was bleibt, was haben wir gelernt?
Publiziert: 12.05.2023 um 00:30 Uhr
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Aktualisiert: 12.05.2023 um 09:54 Uhr
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Die Schweiz hat einiges gelernt in der Pandemie. Nur: Ein Maskenlager hat sie noch immer nicht.
Foto: Keystone
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Tobias OchsenbeinRedaktor Politik

Am 16. März 2020 ging es plötzlich schnell: Der Bundesrat erklärte die «ausserordentliche Lage» und schickte die Schweiz in den ersten Corona-Lockdown. Läden, Restaurants, Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe: alles geschlossen. Zunächst bis zum 19. April, doch dabei blieb es nicht. Das Land erlebte eine Krise, deren Ende immer wieder in Aussicht gestellt wurde – und die dann über zwei Jahre weiterging.

Es fehlten Masken, Desinfektionsmittel, das WC-Papier wurde knapp. Jetzt fragt sich: Hat die Politik genug getan, um die Bürgerinnen und Bürger zu schützen? Wurden die Folgen der Lockdowns genügend bedacht? Ist die Schweiz nun besser vorbereitet? Zeit für eine Bilanz.

Schutzmasken

Vieles war am Anfang unklar, klar war aber rasch: Die Schweiz hat zu wenig Schutzmasken. Gleichzeitig hiess es beim Bund, Masken bringen nichts. Interne Protokolle zeigten später: Die Behörden kommunizierten auch so, weil Masken fehlten.

Für künftige Pandemien ist die Schweiz sicher besser vorbereitet, denkt man. Von wegen! Es gibt keine Pflichtlager für Schutzmasken, wie das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) mitteilt. Die durch den Bund während der Pandemie beschafften Reserven seien aber teilweise nach wie vor in der Armeeapotheke vorhanden. Das BWL empfiehlt deshalb den Haushalten, pro Person 50 Hygienemasken im Notvorrat zu halten.

Desinfektionsmittel

Auch die Nachfrage nach Desinfektionsmitteln stieg schnell an. Die Folge: Ethanol, der Rohstoff für Desinfektionsmittel, wurde immer knapper. So verkauften etwa Destillerien Vorräte an Kantone, um daraus Desinfektionsmittel zu produzieren.

Drei Jahre später ist die Nachfrage sogar unter das Vor-Pandemie-Niveau gesunken, sagen mehrere Hersteller. Sie führen das darauf zurück, dass Bestände, die 2020 und 2021 angehäuft wurden, immer noch verbraucht werden.

Heute wissen wir: Desinfektionsmittel, Masken und Massnahmen wie Distanzregeln waren während der Pandemie so effektiv, dass sich auch andere Viren kaum noch verbreiteten. Richtig getragene Masken reduzieren das Risiko einer Ansteckung, kann das Max-Planck-Institut in Deutschland belegen.

Medikamente

Noch heute fehlen in der Schweiz Hunderte Medikamente. Anfang Jahr wurde darum die Initiative «Ja zur medizinischen Versorgungssicherheit» lanciert. Die Initiative will die Versorgung mit wichtigen Heilmitteln und medizinischen Gütern verbessern, indem der Bund, statt 26 Kantone, zuständig sein soll. Zudem soll der Standort Schweiz bei Forschung, Entwicklung, Produktion und Lagerhaltung gestärkt werden.

Gleichzeitig prüfen das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und BWL derzeit einen Katalog von Massnahmen, mit denen die Versorgungssituation bei Medikamenten und Impfstoffen künftig verbessert werden soll. Dazu gehören etwa eine massive Erweiterung der zu überwachenden Arzneimittel und eine Ausweitung der Pflichtlager.

Versorgungssicherheit

Durch die rasante Ausbreitung des Coronavirus stieg die Nachfrage nach Gütern zur Bekämpfung der Pandemie sprunghaft an. Dies hat in vielen Ländern zu einer Produkte-Knappheit geführt.

Obschon die Schweiz während der Pandemie keine anhaltenden Versorgungsengpässe verzeichnete, war die Versorgungslage für einige Güter während mehrerer Wochen angespannt.

So war teilweise wichtiges Material für die medizinischen Labore nicht lieferbar. Das hatte etwa negativen Einfluss auf die Durchführung von Tests. Parlamentarier wollen den Bundesrat nun dazu zwingen, wichtige Güter zu definieren.

Digitalisierung

Die Lage war ernst. Wie ernst, konnte das BAG aber nicht rasch genug darlegen, weil es nicht über aktuelle Daten verfügte. Das BAG wurde zur Lachnummer, da ihm Ärzte die Covid-Fallzahlen zum Teil noch per Fax zusandten. Das zeigte eindrücklich: Der Digitalisierungsgrad des Schweizer Gesundheitswesens ist ungenügend.

Nachdem das BAG viel Gespött über sich ergehen lassen musste, macht es bei der Digitalisierung vorwärts. Schritt für Schritt will es hin zur vollständigen Digitalisierung – und damit bald weg vom Fax.

Verlässliche Gesundheitsdaten seien nicht nur für die Steuerung in einer Krise unerlässlich, sondern auch für bestehende und zukünftige medizinische Behandlungsmöglichkeiten, fasst der Schweizer Pharma-Verband Interpharma zusammen.

Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) kommt heute zum Schluss: Die Digitalisierung im Gesundheitswesen müsse vorangetrieben und verbindlich geregelt werden. Bis Ende Jahr will der Bundesrat darum die Botschaft zum Programm DigiSanté 2023 entwickeln, die Förderung der digitalen Transformation im Gesundheitswesen.

Föderalismus

Es lief bei weitem nicht alles reibungslos während der Krise. Es gab Verzögerungen, Missverständnisse, Koordinationsprobleme. Zwischen Bund und Kantonen kam es zum Streit. Auch zwischen einzelnen Departementen.

Insbesondere der Umgang mit dem flächendeckenden Wiederanstieg der Fallzahlen im Herbst/Winter 2020 hat gezeigt, dass die Zuständigkeiten von Bund und Kantonen in der «besonderen Lage» gemäss Epidemiengesetz geschärft werden müssen.

Der schweizerische Föderalismus sei bei der Bewältigung einer Krise von dieser Grösse eine Herausforderung, aber kein Hindernis, bilanziert die GDK. Zu den Herausforderungen zählten die für die Bevölkerung nicht immer nachvollziehbaren Unterschiede zwischen den kantonalen Regelungen. Deshalb soll künftig bereits bei der Anordnung von Massnahmen des Bundesrats festgelegt werden, wer welchen Anteil der Kosten trägt.

Zu den Vorteilen des Föderalismus gehören für die GDK andererseits die Möglichkeit von differenzierten und auf die jeweilige epidemiologische Lage angepassten Reaktionen.

Wissenschaft

Die Pandemie hat zwar das Gesundheitssystem auf die Probe gestellt, aber auch die Forschung vorangetrieben. «Wir haben in vielen Bereichen viel gelernt – Hunderte von Forscherinnen und Forschern haben in den letzten Jahren quasi in Echtzeit viele Einsichten geliefert», resümiert der Epidemiologe Marcel Salathé (48).

Und doch, so Salathé: «Es gibt leider immer noch sehr viele Bereiche, in denen wir noch nicht genug wissen, zum Beispiel im Bereich Longcovid – da gibt es weiterhin sehr viel zu entdecken.» Denn: Auch wenn die Pandemie vorbei ist, entwickle sich das Virus laufend weiter.

Abstimmung im Juni

Am 18. Juni stimmen wir über das Covid-Gesetz ab – zum dritten Mal innerhalb von drei Jahren. Bundesrat und Parlament wollen Teile des geltenden Gesetzes bis Mitte 2024 verlängern, damit die Behörden im Notfall rasch handeln könnten. Vieles wird aber trotzdem noch später geregelt werden müssen.

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