Wenn die Fallzahlen steigen, geschieht in der Schweiz – lange nichts. Das haben die vergangenen Wochen gezeigt. Wieder einmal. Die Schulen melden Ausbrüche am Laufmeter, Pflegende sind am Anschlag, viele Intensivstationen praktisch voll – doch in der Politik herrscht eigentümliche Gelassenheit. Bezeichnend die Haltung von Gesundheitsminister Alain Berset (49), der letzten Montag fand: «Es ist nicht nötig, vor Freitag zu entscheiden.» Delta hin, Omikron her.
So zog sich die Debatte über 2G mehrere Wochen hin, bevor der Bundesrat am Freitag schliesslich neue Massnahmen beschloss. Er wählte die mildere der vorgeschlagenen Varianten: Die Regierung will die Lage mit 2G, Maskenpflicht, Tests und Homeoffice unter Kontrolle bringen. Während andere Länder schon bei tieferen Inzidenzen Ausgangssperren verfügten.
Die Schweiz setzt ihren Sonderweg fort – unumstritten ist er aber nicht. SonntagsBlick hat diese Woche mit Verantwortungsträgern von Bund, Kantonen und Gesundheitsbehörden gesprochen. Dabei wurde klar: Hinter den Kulissen herrscht Unruhe. Die Landesregierung nehme ihre Führungsaufgabe nicht wahr, meint ein Regierungsrat. Ein anderer stellt fest, früher habe der Bundesrat den Kantonen einen konkreten Vorschlag präsentiert. Heute bombardiere er sie mit verschiedenen Varianten. «Damit reicht er die heisse Kartoffel einfach weiter.»
Auch in Teilen der Bevölkerung sorgt das zögerliche Vorgehen für Kopfschütteln. «Der Bundesrat kommuniziert einmal mehr sehr schwach», schreibt ein Leser auf Blick.ch zum Entscheid der Regierung, erst am Freitag zu handeln. «Weitere Massnahmen nötig, aber mal abwarten: Gehts noch?» Ein anderer meint: «Ein Kindergarten ist besser organisiert.» Beide Kommentare ernten viel Zustimmung.
Föderalistisches Fingerzeigen
Kein Wunder: Fachleute warnen angesichts der anrollenden Omikron-Welle vor einer «Pandemie in der Pandemie» und fehlenden Spitalkapazitäten; im Schnitt sterben Tag für Tag mehr als 20 Menschen an Covid-19. Unser Land legt nicht nur beim Ergreifen von Abwehrmassnahmen eine unübersehbare Behäbigkeit an den Tag, sondern hinkt auch beim Verabreichen des Boosters und der Kinderimpfung anderen Ländern hinterher.
Die Schweiz – gewöhnlich in allen möglichen Disziplinen eine Musterschülerin – wirft ausgerechnet angesichts der Pandemie sämtliche Lehrbuch-Ratschläge über Bord. Sie zweifelt, zögert, zaudert. Warum?
Der wichtigste Grund liegt auf der Hand: der Föderalismus. In schwierigen Phasen verführt er Bund und Kantone dazu, sich gegenseitig die Verantwortung zuzuschieben. So nervten sich die Kantone Ende November, dass die Landesregierung trotz steigender Fallzahlen keine schweizweiten Massnahmen ergriff. Als der Bundesrat nach der Entdeckung der Omikron-Variante – und wie zufällig zwei Tage nach der Abstimmung über das Covid-Gesetz vom 28. November – in einer Hauruck-Übung plötzlich doch Massnahmen einführen wollte, reagierten die Kantone trotzig. Manche lehnten sogar Verschärfungen auf nationaler Ebene ab, die sie selbst schon eingeführt hatten. Zum Beispiel Massentests an den Schulen. Berset reagierte seinerseits angesäuert, als er in den letzten Tagen mehrmals betonte, für die Spitalkapazitäten seien die Kantone zuständig.
All dies macht deutlich: Im Föderalismus – und generell in dem auf Konsens und Kollegialität basierenden Schweizer Polit-System – kann sich in einer Krise jeder hinter jedem verstecken. «Verantwortungsdiffusion» heisst das: Niemand fühlt sich richtig zuständig. Doch Macht abgeben will dann auch keiner.
Viele verschiedene Brems-Faktoren
Über dem Bundesrat hängt aber noch ein zweites Damoklesschwert: die direkte Demokratie. Nach dem unerwartet hohen Nein-Anteil von 40 Prozent bei der ersten Abstimmung über das Covid-Gesetz im Juni wollte er den Massnahmengegnern keine neue Munition liefern. Kein Wunder, verhängte die Landesregierung vor dem Abstimmungssonntag Ende November trotz hoher Fallzahlen keine Verschärfungen.
Zu dieser Zögerlichkeit trägt auch die bürgerliche Mehrheit im Parlament bei, die sich gern von der Tribüne in die Pandemiebekämpfung einmischt. Sei es, dass sich die Gesundheitskommission gegen eine Maskenpflicht ausspricht oder dass mit der SVP die grösste Partei fast jede Verschärfung ablehnt. Macht der Bundesrat zu schnell vorwärts, droht ihn das Parlament zu übersteuern.
Bremsend auf die Pandemiebekämpfung wirkt auch das Credo, auf das sich Bund und Kantone geeinigt haben: Sobald alle geimpft sind, die das wollen, hat das Verhindern einer Überlastung der Spitäler Priorität. Dieser Leitsatz öffnet dem Bundesrat erheblichen Spielraum: Sind die Spitäler überlastet, wenn das Personal am Anschlag ist? Wenn Operationen verschoben werden müssen? Wenn kein Bett mehr frei ist? Die Landesregierung hat diese Woche demonstriert, dass sie zumindest die ersten beiden Fragen mit «Nein» beantwortet.
Doch wie schnell – oder wie langsam – ist die Schweiz in der Corona-Krise wirklich unterwegs? Einer der angefragten Gesundheitsdirektoren meint: «Wir könnten auch im Mittelfeld liegen.» Denn: Wir orientieren uns in der Regel an jenen Ländern, die in der Pandemiebekämpfung gerade eine besonders gute Falle machen. 2G? Gibt es in Griechenland seit drei Monaten. Den Booster? Liess Deutschland schon im September zu. Die Kinderimpfung? Wird in den USA seit Anfang November verabreicht.
«Langsam ist nicht immer schlecht»
Bloss: Keine Regierung macht immer alles rasch und richtig. Zu gross ist die Dynamik dieser Pandemie. Impfweltmeister Portugal geht wieder in den Lockdown, Musterschüler Dänemark kämpft verzweifelt gegen Omikron.
Hinzu kommt: Dem Bundesrat gelingt es, mit seinem Kurs den Grossteil der Bevölkerung mitzunehmen. Das zeigen die Ergebnisse einer neuen Umfrage des Link-Instituts im Auftrag von SonntagsBlick: 68 Prozent sprechen sich für 2G aus, 80 Prozent lehnen derzeit einen Lockdown ab. Schritt für Schritt – das findet Mehrheiten. Ein Regierungsrat formuliert es so: «Langsam ist nicht immer schlecht.» So erwies es sich im Nachhinein als richtig, auf den Impfstoff von Astrazeneca zu verzichten und auf die mRNA-Impfstoffe zu warten. Auch der Entscheid, trotz politischen Drucks den Abstand zwischen den Impfungen nicht zu verlängern, hat sich bewährt.
Ausserdem bummelt die Schweiz längst nicht immer. Die hiesige Heilmittelbehörde Swissmedic gab die Zulassung für die mRNA-Vakzine im Dezember 2020 – nirgendwo in Kontinentaleuropa kam sie früher. Auch bei der Kinderimpfung handelte Swissmedic schnell: Die EU brauchte 38 Tage, um die Daten der Impffirmen zu sichten – Swissmedic gab schon 21 Tage nach dem Eintreffen der Gesuche grünes Licht.
Klar ist aber auch: Mit Omikron kommt eine Gefahr neuer Dimension auf die Schweiz zu. Schritt für Schritt – das kann weiterhin funktionieren. Doch die Schritte müssen wohl bald ein wenig schneller werden. Darauf deuten die Geschehnisse in London hin. Die Stadt hat wegen Omikron gestern Samstag den Katastrophenfall ausgerufen.