Hohe Schulden, viel Kritik
Wer kann die Invaliden-Versicherung heilen?

Die Invalidenversicherung steht regelmässig in der Kritik: Fehlerhafte Gutachten, verschärfte Leistungsausschüttungen und ein Millionen-Defizit belasten die Sozialversicherung.
Publiziert: 14.10.2024 um 00:39 Uhr
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Aktualisiert: 14.10.2024 um 09:06 Uhr
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Die Invalidenversicherung steht seit Jahren unter politischem und finanziellem Druck.
Foto: Manuel Geisser

Auf einen Blick

  • IV bleibt umstritten und in den Schlagzeilen
  • Betroffener berichtet über die Hürden für Unterstützungsleistungen
  • Über die Hälfte der IV-Bezüge wegen psychischer Erkrankungen
  • IV-Beschränkungen führten zu mehr Sozialhilfefällen
  • Parlament beschloss 2022 Verbesserungen
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Joschka SchaffnerRedaktor Politik

Die Invalidenversicherung (IV) bleibt in den Schlagzeilen: Immer wieder zeigen Einzelschicksale, wie Betroffene der Willkür von Gutachtern, Gerichten und Sozialversicherung ausgeliefert sind.

Vergangenes Jahr bezogen sechs Prozent aller Versicherten in der Schweiz mindestens einmal eine IV-Leistung in Form von Eingliederungsmassnahmen, Invalidenrenten oder Hilflosenentschädigungen. Über die Hälfte davon aufgrund psychischer Erkrankungen. Besonders bei den Jungen nehmen die Fälle zu: Sie stiegen bei den 18- bis 24-Jährigen allein im 2023 um 28 Prozent.

Der IV fehlt eine nachhaltige Finanzierung

Dennoch zeigt sich die IV in den vergangenen 20 Jahren bei der Berentung zurückhaltender. Seit 2005 sank die Anzahl Neurenten fortlaufend – trotz eines deutlichen Bevölkerungswachstums. Insbesondere bei verunfallten Personen zeigt sich das in den Zahlen: Dort hat sich die Anzahl IV-Bezügerinnen und -Bezüger in den vergangenen zwei Jahrzehnten beinahe halbiert. Denn bei «Schmerzleiden ohne klar identifizierbare körperliche Ursache» wie Schleudertraumata oder chronischen Schmerzen sieht sich die IV nicht mehr zuständig.

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2015 stellte sich das Bundesgericht zwar gegen diesen Grundsatz. Eine Studie des Rechtswissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich konstatierte zwei Jahre später jedoch keine Verbesserung. Die kantonalen IV-Stellen verschärften weiter wie bisher. Auch Menschen mit psychischen Erkrankungen wurde laut der Studie immer seltener eine Rente zugesprochen.

Stattdessen setzt die Versicherung immer mehr auf Eingliederungsmassnahmen – denn das kommt günstiger. Vor der Jahrtausendwende rutschte die IV ins Defizit. Bis 2010 stieg die Verschuldung gegenüber der AHV auf 15 Milliarden Franken an. Durch Revisionen und die Einrichtung eines IV-Fonds konnten die Schulden in den vergangenen zehn Jahren zumindest um ein Drittel reduziert werden. Der IV fehlt es jedoch weiterhin an einer nachhaltigen Finanzierung.

Viele Betroffene landen bei der Sozialhilfe

2021 zeigte eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen auf, welchen unglücklichen Nebeneffekt die neue Gangart mit sich zieht. Zwar gelang es der IV durch die vermehrten Eingliederungsmassnahmen, immer mehr Betroffene wieder ins Berufsleben zu bringen.

In absoluten Zahlen stiegen aber auch die Fälle, bei denen die berufliche Integration nicht gelang. Heisst: Sie erhalten keine IV-Rente und werden oft in die Sozialhilfe abgeschoben. Die IV saniert damit ihre Bilanzen, die Städte und Gemeinden bleiben auf den Kosten sitzen. Ein Vorwurf, der das Bundesamt für Sozialversicherungen zuvor lange abstritt.

Der Effekt verstärkt sich auch durch die sogenannten systematischen Überprüfungen, die 2012 eingeführt wurden. Denn dadurch sei das Risiko eines Übertritts in die Sozialhilfe nach einer Rentenaufhebung deutlich gestiegen – in der Periode 2009 bis 2015 etwa um 20 Prozent, schätzt die Studie.

Fragwürdige Gutachten und unrealistische Lohntabellen

Als wäre dies nicht genug, gerieten in den vergangenen Jahren auch die ärztlichen IV-Gutachten immer mehr in Verruf. Im Fokus stand besonders die Gutachterfirma Pmeda.

Das Unternehmen des deutschen Neurologen Henning Mast (71) kam in seinen Untersuchungen überraschend oft zum Schluss, dass Betroffene kein Anrecht auf eine IV-Leistung hätten. Vergangenes Jahr stellte die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung bei Pmeda-Gutachten «gravierende formale und inhaltliche Mängel» fest.

Bereits 2022 beschloss das Parlament aufgrund der Kritik eine Weiterentwicklung der IV-Verordnung: Neu können sich Versicherte mit der IV gemeinsam auf Gutachter einigen. Und die Untersuchungen müssen sauber aufgezeichnet und dokumentiert werden, damit sie nachprüfbar sind. Für Behindertenorganisationen ist das zumindest ein Schritt zur Besserung.

Alle Probleme seien dadurch aber nicht gelöst. So gebe es besonders bei der Berechnung des Lohnausfalls weiterhin Nachholbedarf. Auch mit der neuen Regelung würden für Betroffene oft unrealistische Berechnungen angewendet. Das führe zu gar keinen oder zu tiefen Renten. Die fortlaufenden Diskussionen um die IV zeigen: Sie wird auch die kommenden Jahre im Brennpunkt bleiben.

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