Sozialschmarotzer. Scheininvalide. Sozialdetektive. Seit Jahrzehnten streitet die Schweiz darüber, wer von der Invalidenversicherung (IV) Geld erhalten soll – und wie viel.
Diese Woche erhitzte diese Frage erneut die Gemüter. Das Bundesgericht hatte bekannt gegeben: Sucht ist eine Krankheit – also sollen Suchtkranke Aussicht auf eine IV-Rente haben.
Auf Blick.ch empörte sich ein Leser: «Der ganze Sozialstaat wird ausgenommen, auf alle Arten, bis nichts mehr übrig ist.» Und ein anderer: «Heute hat in diesem links-grünen Staat jeder Anspruch auf Sozialleistungen.»
Was die Kommentarschreiber vermutlich nicht wissen: In der Schweiz erhalten Jahr für Jahr weniger Menschen Geld von der Invalidenversicherung. 2005 gab es 251'828 IV-Rentnerinnen und Rentner. Ende 2018 waren es noch 217'944: ein Rückgang von 13 Prozent – und das, obwohl die Gesamtbevölkerung im gleichen Zeitraum um 15 Prozent gewachsen ist.
IV ist ab 2008 strenger geworden
Harald Sohns, Sprecher des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), erklärt, aus welchem Grund: «Die IV ist bei der Zusprache von Renten strenger geworden, insbesondere ab 2008.» Zuvor sei die Rentenberechtigung zu leichtfertig vergeben worden, die IV habe enorme Schulden angehäuft. Als Reaktion darauf habe man den Leitsatz «Eingliederung statt Rente» eingeführt.
Die IV verkauft ihre Eingliederungsmassnahmen als vollen Erfolg. Am Freitag publizierte die SRF-Sendung «10 vor 10» neue Berechnungen zur «Wirtschaftlichkeit der 4., 5. und 6. IV-Revision». Fazit der Studie, in Auftrag gegeben von der IV-Stellen-Konferenz: «Dank wieder in den Arbeitsmarkt eingegliederten IV-Bezügern spart die Invalidenversicherung jährlich über 700 Millionen Franken.»
Aber: Das ist nicht die ganze Geschichte. Eine breite Allianz aus Ärzten, Behindertenverbänden, Lokalpolitikern und Versicherungsanwälten kritisiert: Die hochgelobten Wiedereingliederungsmassnahmen seien bestenfalls für die Finanzen der IV ein Erfolg.
Für die IV gibts für jeden einen Job, der zumutbar ist
Judith Hanhart von Agile.ch, der Organisation von Menschen mit Behinderungen, sagt: «Wer gemäss IV arbeitsfähig ist, verliert die IV-Rente – auch wenn er wegen der gesundheitlichen Probleme keine Chance hat auf dem Arbeitsmarkt.»
Philippe Luchsinger (62), Präsident der Haus- und Kinderärzte Schweiz, beobachtet dasselbe: «Es ist sehr schwierig geworden, von der IV für erwerbsunfähig erklärt zu werden. Nach Ansicht der IV gibt es für praktisch jeden und jede einen Job, der machbar und zumutbar ist.»
Als Beispiel nennt er eine Person, die jahrzehntelang einen körperlich sehr anstrengenden Job machte und mit Mitte 50 starke Rückenbeschwerden bekam. «Die IV sagt dann: ‹Okay, du kannst nicht mehr schwer heben und bist in deinem alten Job deshalb zu 100 Prozent arbeitsunfähig. Für leichte Arbeit in einer Fabrik bist du aber noch voll einsetzbar.›» In der Praxis finde jemand, der jahrelang auf dem Bau gearbeitet habe, kaum eine Stelle in einem anderen Bereich. Trotz Umschulung – und vor allem nicht mit Mitte 50.
Luchsinger: «Die IV sieht es aber nicht als ihr Problem an, dass die von ihr für erwerbsfähig erklärten Menschen in dem für sie neu definierten Arbeitsbereich chancenlos sind.»
Zu krank für den Arbeitsmarkt, zu gesund für die Rente
Umstritten ist, was mit denen geschieht, die von der IV für gesund erklärt werden. Eindeutig auffällig jedoch: Im gleichen Zeitraum, in dem die Zahl der Bezüger um rund 34'000 Personen abnahm, stieg die Zahl der Sozialhilfeempfänger um 41'000 an. Fachleute aus der Praxis sind sich deshalb sicher: Viele, denen die IV-Rente gestrichen wird, landen über kurz oder lang in der Sozialhilfe.
«Die Erfahrungen aus dem Alltag deuten darauf hin, dass es viele solche Fälle gibt», sagt der Mediziner Philippe Luchsinger. Auch Nicolas Galladé, Vorsteher des Sozialdepartements der Stadt Winterthur ZH, stellt fest: «Zahlreiche Personen müssen Sozialhilfe beziehen, weil sie zu krank für den heutigen Arbeitsmarkt sind, aber ‹zu gesund› für eine IV-Rente.»
Markus Kaufmann ist Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos), der viele Städte und Gemeinden angehören. Mitglieder melden ihm regelmässig, dass sie mehr gesundheitlich belastete Personen unterstützen müssen. Er ist daher überzeugt: «Es landen immer mehr Menschen auf dem Sozialamt, die ursprünglich wegen ihrer Gesundheit in Not geraten sind.» Kaufmanns Fazit: «Die IV wird zumindest teilweise auf Kosten der Sozialhilfe saniert.»
Keine wissenschaftlich fundierte Daten
Der Bund wehrt sich gegen diese Vorwürfe. BSV-Sprecher Sohns stellt kategorisch fest: «Die IV erklärt niemanden willkürlich für gesund, sondern klärt die gesundheitlichen Einschränkungen eines Menschen sowie die daraus resultierende Einschränkung der Erwerbsfähigkeit in jedem Einzelfall gründlich ab.»
Und wie erklärt das Bundesamt für Sozialversicherungen die Tatsache, dass sich die Zahl der IV-Bezüger und Sozialhilfeempfänger gegenläufig entwickelt? Sohns: «Das sagt nichts darüber aus, ob es einen Zusammenhang, eine Kausalität gibt.» Dafür gebe es keine Belege.
Allerdings kann der Bund auch keine wissenschaftlich fundierten Daten präsentieren, die einen Zusammenhang ausschliessen.
Sohns gesteht deshalb ein: «Die Datenlage ist unbefriedigend.» Das Problem sei, dass die Einkommensquellen von einer grossen Anzahl Personen über lange Zeit detailliert verfolgt werden müssten, um aussagekräftige Daten zu erarbeiten.
Doch Besserung ist in Sicht: «Das BSV arbeitet an einem Forschungsprojekt, das uns erlauben soll, aussagekräftigere Aussagen zu machen über die effektiven Vorgänge zwischen IV und Sozialhilfe.» Vorläufige Ergebnisse seien für das erste Halbjahr 2020 zu erwarten.
Kommende Woche debattiert die zuständige Ständeratskommission über die «Weiterentwicklung der IV». Im Fokus stehen Kinder, Jugendliche und psychisch Kranke. Der Bundesrat will neue Massnahmen ergreifen, um deren Invalidität zu vermeiden und Eingliederung zu fördern. Jungen Menschen soll künftig erst dann eine Rente zugesprochen werden, wenn alle Massnahmen zur Eingliederung ausgeschöpft sind. Es geht um eine Steigerung von Anreizen zur Erwerbstätigkeit und weniger Anreize für einen Rentenbezug.
Der Bundesrat hatte die Vorlage ausdrücklich nicht als Sparvorlage angelegt – was allerdings nicht nach dem Geschmack des Nationalrats war, der sie im Frühjahr als Erstrat behandelte: Die grosse Kammer beschloss, die Zahlungen für Kinder von IV-Bezügern empfindlich zu kürzen. Sollte der Ständerat mitziehen, würden die durchschnittlichen sogenannten Kinderrenten künftig bei 400 liegen statt heute 530 Franken.
Kommende Woche debattiert die zuständige Ständeratskommission über die «Weiterentwicklung der IV». Im Fokus stehen Kinder, Jugendliche und psychisch Kranke. Der Bundesrat will neue Massnahmen ergreifen, um deren Invalidität zu vermeiden und Eingliederung zu fördern. Jungen Menschen soll künftig erst dann eine Rente zugesprochen werden, wenn alle Massnahmen zur Eingliederung ausgeschöpft sind. Es geht um eine Steigerung von Anreizen zur Erwerbstätigkeit und weniger Anreize für einen Rentenbezug.
Der Bundesrat hatte die Vorlage ausdrücklich nicht als Sparvorlage angelegt – was allerdings nicht nach dem Geschmack des Nationalrats war, der sie im Frühjahr als Erstrat behandelte: Die grosse Kammer beschloss, die Zahlungen für Kinder von IV-Bezügern empfindlich zu kürzen. Sollte der Ständerat mitziehen, würden die durchschnittlichen sogenannten Kinderrenten künftig bei 400 liegen statt heute 530 Franken.
Man könnte meinen, das Kürzel IV stehe für «immens verdächtig».
Als Bundesbern im Sommer 1959 die Einrichtung der Invalidenversicherung diskutierte, befürchtete die Ärztevereinigung FMH: «Rentenneurotiker und Asoziale stürzen sich auf alle erreichbaren Unterstützungsgelder.»
Mit Verweis auf diese Bedenken plädierte der zuständige Bundesrat Philipp Etter, die Hürden für den Bezug einer Rente nicht zu tief anzusetzen. Unter dieser Bedingung wurde die Invalidenversicherung auf den 1. Januar 1960 hin eingeführt.
Im Wahlkampf 2003 importierte die SVP aus Deutschland das Wort «Scheininvalide». Es war der politische Coup des Jahrzehnts. Erst räumte die Partei bei den Wahlen ab, später verordneten Bundesrat, Parlament und Stimmbevölkerung der IV ein sehr viel strikteres Regime. Insbesondere Menschen mit psychischem Leiden haben es seither schwerer, als krank anerkannt zu werden.
Dass die Zahl der IV-Empfänger zurückgeht, erstaunt da nicht. Sozialminister Alain Berset freut sich – und lässt öffentlich verkünden: «Die IV hat sich erfolgreich von einer Renten- zu einer Eingliederungsversicherung gewandelt.»
In der Tat hat das Bundesamt für Sozialversicherungen ein paar Instrumente eingeführt, um Personen mit Invaliditätsrisiko frühzeitig zu erkennen und in der Arbeitswelt zu halten.
Dagegen kann niemand etwas einwenden. Im Gegenteil! Wie wirksam diese Bemühungen aber sind, inwiefern die IV effektiv zu einer Eingliederungsversicherung geworden ist: Diese Frage kann der Bund nicht beantworten.
Es ist ein starkes Stück: Die Behörden haben über Jahre bewusst auf ein professionelles und umfassendes Controlling ihrer Massnahmen verzichtet. Man wollte gar nicht wissen, welches die individuellen, welches die gesellschaftlichen Folgen der jüngsten Verschärfungen bei der IV sind. Hauptsache, es hat weniger Bezüger.
Dabei gab es früh Anzeichen dafür, dass es mit der Integration in den Arbeitsmarkt nicht so weit her ist. Seit langem mehren sich die Hinweise, dass viele Betroffene nun einfach in der Sozialhilfe landen. Dass die ganze Übung letztlich also kaum mehr ist als ein Nullsummenspiel. Schon 2014 schrieb die OECD in einem Bericht über das Schweizer Sozialsystem: «Der jüngste Anstieg der Sozialhilfebezüger ist teilweise eine Folge des restriktiveren Zugangs zu IV-Leistungen.»
Natürlich kam und kommt Missbrauch bei den Sozialwerken vor. Ebenfalls klar ist: Missbrauch darf nicht toleriert werden. Das gibt dem Bund jedoch nicht das Recht, seinerseits mit gezinkten Karten zu spielen und Erfolge zu bejubeln, die sich gar nicht nachweisen lassen.
Das sind zynische Tricksereien auf Kosten der Schwächsten.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen gelobt jetzt Besserung. Offenbar arbeitet man an einer umfassenden Analyse über den Zusammenhang zwischen IV und Sozialhilfe.
Bis tatsächlich Resultate vorliegen, gelten die verantwortlichen Behörden als «immens verdächtig».
Man könnte meinen, das Kürzel IV stehe für «immens verdächtig».
Als Bundesbern im Sommer 1959 die Einrichtung der Invalidenversicherung diskutierte, befürchtete die Ärztevereinigung FMH: «Rentenneurotiker und Asoziale stürzen sich auf alle erreichbaren Unterstützungsgelder.»
Mit Verweis auf diese Bedenken plädierte der zuständige Bundesrat Philipp Etter, die Hürden für den Bezug einer Rente nicht zu tief anzusetzen. Unter dieser Bedingung wurde die Invalidenversicherung auf den 1. Januar 1960 hin eingeführt.
Im Wahlkampf 2003 importierte die SVP aus Deutschland das Wort «Scheininvalide». Es war der politische Coup des Jahrzehnts. Erst räumte die Partei bei den Wahlen ab, später verordneten Bundesrat, Parlament und Stimmbevölkerung der IV ein sehr viel strikteres Regime. Insbesondere Menschen mit psychischem Leiden haben es seither schwerer, als krank anerkannt zu werden.
Dass die Zahl der IV-Empfänger zurückgeht, erstaunt da nicht. Sozialminister Alain Berset freut sich – und lässt öffentlich verkünden: «Die IV hat sich erfolgreich von einer Renten- zu einer Eingliederungsversicherung gewandelt.»
In der Tat hat das Bundesamt für Sozialversicherungen ein paar Instrumente eingeführt, um Personen mit Invaliditätsrisiko frühzeitig zu erkennen und in der Arbeitswelt zu halten.
Dagegen kann niemand etwas einwenden. Im Gegenteil! Wie wirksam diese Bemühungen aber sind, inwiefern die IV effektiv zu einer Eingliederungsversicherung geworden ist: Diese Frage kann der Bund nicht beantworten.
Es ist ein starkes Stück: Die Behörden haben über Jahre bewusst auf ein professionelles und umfassendes Controlling ihrer Massnahmen verzichtet. Man wollte gar nicht wissen, welches die individuellen, welches die gesellschaftlichen Folgen der jüngsten Verschärfungen bei der IV sind. Hauptsache, es hat weniger Bezüger.
Dabei gab es früh Anzeichen dafür, dass es mit der Integration in den Arbeitsmarkt nicht so weit her ist. Seit langem mehren sich die Hinweise, dass viele Betroffene nun einfach in der Sozialhilfe landen. Dass die ganze Übung letztlich also kaum mehr ist als ein Nullsummenspiel. Schon 2014 schrieb die OECD in einem Bericht über das Schweizer Sozialsystem: «Der jüngste Anstieg der Sozialhilfebezüger ist teilweise eine Folge des restriktiveren Zugangs zu IV-Leistungen.»
Natürlich kam und kommt Missbrauch bei den Sozialwerken vor. Ebenfalls klar ist: Missbrauch darf nicht toleriert werden. Das gibt dem Bund jedoch nicht das Recht, seinerseits mit gezinkten Karten zu spielen und Erfolge zu bejubeln, die sich gar nicht nachweisen lassen.
Das sind zynische Tricksereien auf Kosten der Schwächsten.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen gelobt jetzt Besserung. Offenbar arbeitet man an einer umfassenden Analyse über den Zusammenhang zwischen IV und Sozialhilfe.
Bis tatsächlich Resultate vorliegen, gelten die verantwortlichen Behörden als «immens verdächtig».