Auf einen Blick
- Reto M. kämpft seit 2015 mit der Invalidenversicherung
- Trotz ärztlicher Atteste wird seine Arbeitsunfähigkeit nicht anerkannt
- Die IV schuldet ihm rund 30'000 Franken
Im Jahr 2014 sollte sich das Leben von Reto M.* (48) aus Hinterforst SG für immer ändern. Der Auslöser: eine Volkskrankheit. «Bei mir wurde vor neun Jahren ein Bandscheibenvorfall diagnostiziert», erzählt Reto M. beim Besuch von Blick.
Neun Jahre und drei Operationen später kann M. aufgrund seines Leidens noch immer nicht arbeiten; er hängt am Tropf der Sozialhilfe, statt eine IV-Rente zu beziehen.
Denn die Invalidenversicherung (IV) wehrt sich mit allen Mitteln gegen seinen Rentenanspruch. Und hat bis heute nichts gezahlt. Wie konnte es so weit kommen?
Der Start einer Odyssee
Reto M., ursprünglich Käser und später als Staplerfahrer tätig, wird 2014 nach einem Bandscheibenvorfall am unteren Rücken operiert. Dabei werden ihm stabilisierende Schrauben eingesetzt. Sein Körper stösst die Schrauben aber ab. Wieder muss M. auf den OP-Tisch. Insgesamt dreimal in den Jahren 2014 und 2015, Schrauben hat er bis heute in seinem Rücken. Die Ärzte sind zufrieden mit der letzten Operation von 2015 und prognostizieren eine schnelle Heilung.
Doch auch Monate später, Anfang 2016, klingen die Schmerzen nicht ab. Im Gegenteil: «Sie wurden immer schlimmer», sagt Reto M. Die Behörden haben kein Gehör für sein Leiden, schicken ihn aber in Programme des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums (RAV) und Computerkurse, die er aufgrund seiner Rückenschmerzen jedoch abbrechen muss.
In der Zwischenzeit – von September 2015 bis Anfang 2016 – entwickelt M. zusätzlich eine schwere Depression, die 2016 auch durch einen Psychiater festgestellt wird. «Niemand glaubte mir, dass ich Schmerzen hatte. Das war unheimlich schwer für mich. Ich konnte es nicht nachvollziehen, denn ich lebte täglich mit den Schmerzen, erhielt aber keine Hilfe!», ärgert sich M.
IV-Ärzte sprechen Reto M. sein Leiden ab
Sein Psychiater attestiert ihm 2016 aufgrund seiner psychischen Verfassung eine vollständige Arbeitsunfähigkeit. Selbst der Wiedereingliederungsbeauftrage der IV-Stelle sieht schwarz und bringt eine Rentenprüfung ins Spiel. M. schöpft erstmals Hoffnung.
Ein halbes Jahr später, im Juni 2017, dann der Dämpfer: Zwei von der IV beauftragte Mediziner attestieren ihm vollständige Arbeitsfähigkeit in «leidensangepassten Tätigkeiten» – im Gegensatz zu allen anderen Ärzten, die M. zuvor aufgesucht hat. M.s Rentenbegehren wird deshalb Ende 2017 ein zweites Mal von der IV abgewiesen.
Bis 2019 arbeitet Reto M. weiter in einem reduzierten Pensum und unternimmt zwei weitere Versuche (2018 und 2019), sich bei der IV anzumelden – vergeblich. Derweil muss er weiter Sozialhilfe beziehen. Er häuft sich damit einen Schuldenberg an. Denn im Kanton St. Gallen sind Sozialhilfeleistungen zurückzuzahlen, sollten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Bezügers verbessern.
Alle seine neuen Gesuche werden abgelehnt, mit der Begründung, dass sich sein Gesundheitszustand nicht verschlechtert habe – eine Grundvoraussetzung für eine Wiederanmeldung. Derweil unterzieht er sich regelmässig Behandlungen, um seinen Alltag erträglich zu machen – lässt sich gar einmal jährlich die Nerven am Rücken veröden, um den Schmerz zu lindern. Eine weitere Arbeitsvermittlung scheitert, bevor die IV-Stelle Ende 2021 Reto M.s Rentenanspruch ein weiteres Mal ablehnt.
St. Galler Gericht gibt Reto M. Recht
Rund anderthalb Jahre später, im März 2023, trabt M. zum vierten Mal bei der IV an, mit einem weiteren Arztzeugnis. Die IV tritt erneut nicht darauf ein, denn M. hat eine Untersuchung nach zweieinhalb Stunden aus lauter Erschöpfung abbrechen müssen. Die Ergebnisse seien deshalb nicht komplett.
Einen Monat später erhebt M. schliesslich Beschwerde beim St. Galler Versicherungsgericht und erhält im Dezember 2023 Recht. Das Verdikt des Gerichts: Die Weigerung der IV war nicht rechtens. Die IV muss noch mal über die Bücher, denn «auf den Rentenanspruch sei einzutreten».
Seitdem passierte abermals nichts, sagt Reto M.: «Ich habe vier Arztzeugnisse, die meine Leiden konkret bestätigen, und ein klares Gerichtsurteil. Die IV pocht jedoch weiterhin darauf, dass ich immer neue Arztzeugnisse einreiche.» Sollte die Anmeldung aufgrund des Urteils diesmal gelingen, schulde ihm die IV seit März 2023 etwa 30'000 Franken an Rentengeld, schätzt M.
Rechtsschutz gibt Reto M. Mitschuld an seiner Situation
Mehrere Ärzte bestätigen über Jahre hinweg seine Arbeitsunfähigkeit, und doch passiert nichts. Wie kann das sein? Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen darf sich wegen des Amtsgeheimnisses nicht äussern.
Die Organisation Procap, die M. juristisch unterstützt, erklärt auf Anfrage, dass der Prozess zurzeit laufe und die IV die neu eingereichten Atteste abkläre. Diese liegen aber schon seit April vor, ohne dass in der Zwischenzeit etwas gegangen ist. M. lebt trotz des Urteils weiter von Sozialhilfe.
Der Procap-Rechtsschutz möchte sich zwar nicht zitieren lassen, gibt Reto M. aber eine Mitschuld an seiner Misere, da er Beschwerde-Termine verpasst hatte. «Ich war völlig überfordert», sagt M. dazu. «Dass aber die erste gerichtliche Beschwerde, die ich eingereicht habe, gleich zum Erfolg führte, spricht eine deutliche Sprache.» Er hätte sich wohl schon früher beschweren sollen, konstatiert M.
* Name geändert