Anwältin Bettina Umhang kritisiert Vorgehen scharf
IV-Fälle werden trotz fehlerhafter Gutachten oft nicht neu aufgerollt

Unzählige IV-Urteile basieren auf möglicherweise fehlerhaften Gutachten der Firma Pmeda. Obwohl die Mängel von einer Bundeskommission bestätigt wurden, werden Gerichtsverfahren oft nicht neu aufgerollt. Anwältin Bettina Umhang kritisiert das scharf.
Publiziert: 01.10.2024 um 10:01 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2024 um 10:43 Uhr
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Sie kämpft für Kranke, deren Antrag auf Unterstützung die IV abgelehnt hat: Anwältin Bettina Umhang.
Foto: Zvg
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Chantal Hebeisen
Beobachter

In einem Dokfilm auf SRF kritisieren Sie die Gerichte wegen ihrer Urteile zu IV-Fällen. Warum?
Bettina Umhang: Die Gerichte haben sich in der Vergangenheit zu stark auf die Richtigkeit der Gutachten der medizinischen Abklärungsstellen verlassen: Es kam nur sehr selten vor, dass ein Gericht ein solches Gutachten hinterfragte. Diese Fachberichte kamen damit fast einem Urteil gleich. Die Gerichte und die IV-Stellen müssen sich nach den Erkenntnissen der Qualitätskommission zu den Pmeda-Gutachten der unangenehmen Frage stellen, weshalb sie jahrelang die Mängel der Gutachten nicht erkannt haben, die vom Bund eingesetzte Qualitätskommission aber schon.

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Ende 2023 hat die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB) festgestellt, dass ein Grossteil der Gutachten der Firma Pmeda qualitativ ungenügend war. Können alle Betroffenen nun eine Neubeurteilung ihres IV-Entscheids verlangen?
Man muss unterscheiden: Bei den Fällen, die bei den IV-Stellen noch in Arbeit oder vor Gericht hängig sind, werden die Richter nun sehr genau hinschauen, ob es im Gutachten Ungereimtheiten gibt. Diese Gutachten dürften kaum mehr Beweiswert haben. Auch das Bundesgericht hat kürzlich in einem hängigen Fall so entschieden.

Bei abgeschlossenen, bereits gerichtlich beurteilten Fällen kann man eine Revision des Urteils verlangen, innert 90 Tagen, nachdem man als Betroffener Kenntnis der neuen Tatsachen erhalten hat. Im konkreten Fall also vom Bericht der EKQMB. Doch in zwei Fällen hat das Bundesgericht eine Neubeurteilung bereits abgelehnt.

Warum? Die Urteile basieren doch mutmasslich auf fehlerhaften medizinischen Gutachten.
Das Bundesgericht begründet seinen Entscheid damit, dass die EKQMB in erster Linie Stichproben von Gutachten aus den Jahren 2022 und 2023 überprüft und als mangelhaft eingestuft hat. Bei beiden abgelehnten Revisionsgesuchen stammen die Gutachten aus früheren Jahren. Das Gericht schreibt, dass damals die neuen, präziseren Vorgaben für eine fachgerechte Gutachtenstellung noch nicht gegolten hätten. Das ist ein Scheinargument und rechtlich unhaltbar. 

Zur Person

Die Rechtsanwältin Bettina Umhang ist spezialisiert auf Haftpflicht-, Privat- und Sozialversicherungsrecht sowie auf die Versicherungsmedizin, die Schnittstelle zwischen Medizin und Recht. Die 54-Jährige ist Co-Leiterin der Fachgruppe Haftpflicht- und Versicherungsrecht des Zürcher Anwaltsverbands und Mitglied der Rechtsberatungsstelle für Unfallopfer und Patienten.

Die Rechtsanwältin Bettina Umhang ist spezialisiert auf Haftpflicht-, Privat- und Sozialversicherungsrecht sowie auf die Versicherungsmedizin, die Schnittstelle zwischen Medizin und Recht. Die 54-Jährige ist Co-Leiterin der Fachgruppe Haftpflicht- und Versicherungsrecht des Zürcher Anwaltsverbands und Mitglied der Rechtsberatungsstelle für Unfallopfer und Patienten.

Aber es stimmt doch, dass die Qualitätskriterien erst Anfang 2022 in Kraft getreten sind.
Allgemein bekannte und publizierte inhaltliche Qualitätsanforderungen an ein Gutachten und Leitlinien gibt es schon viel länger, mindestens seit Anfang der 2000er-Jahre oder noch länger. Es ist schon so, dass im Januar 2022 präzisierte Vorgaben eingeführt wurden. Diese sind jedoch juristisch-formeller Natur und haben mit den von der Kommission gerügten medizinischen und inhaltlichen Mängeln überhaupt nichts zu tun! Wenn das Grundvertrauen in die eine Gutachterstelle insgesamt nicht mehr gegeben ist, spielt es keine Rolle, aus welchem Jahr deren Gutachten stammen.

Müsste man also bei sämtlichen Fällen der letzten 20 Jahre prüfen, ob das Gutachten möglicherweise fehlerhaft war?
Meiner Meinung nach ja, wenn der Versicherte innert der Frist ein begründetes Revisionsgesuch gestellt hat. Man fürchtet sich aber offenbar davor, womöglich mehrere Tausend Verfahren neu aufzurollen. Das wäre aber meiner Meinung nach die rechtmässige Konsequenz. Die Gerichte müssten sich geradlinig den unangenehmen Fragen und dem faktischen Aufwand stellen. In der Invalidenversicherung geht es um Existenzen!

Ein Richter ist doch tatsächlich kein Mediziner und muss sich auf Gutachten der Expertinnen verlassen können.
Betroffene dürfen von einem Richter erwarten, dass er die Gutachten mit kritischem Blick anschaut. Es gab durchaus auch Richter, die das gemacht haben. Aber in zu vielen Fällen wurde dies nicht oder ungenügend gemacht. Die Anwälte haben die Mängel unermüdlich gerügt. Teilweise haben wir die kritisierten Gutachten auch mit Fachärztinnen besprochen und fachmedizinische Argumente vorgebracht. Diese wurden jedoch meistens nicht gehört. 

Ich dachte in den letzten 20 Jahren immer wieder: Wenn von unten alle schreien, müssten die Gerichte doch einmal genauer hinschauen. Wir Anwältinnen und Anwälte fühlten uns von den Gerichten aber oft als «lästige Stürmi» abgetan. Die Gutachterfirmen sind gewinnorientierte Privatunternehmen, die aber als Hilfspersonen des Staates eingesetzt werden. Da hätte man schon viel früher Qualitätskontrollen anordnen müssen.

In der SRF-Dok sprach Michael E. Meier von der Universität Zürich davon, dass man gut 4000 Fälle neu beurteilen müsste. Das Bundesgericht sieht das offenbar anders. Was müsste passieren, damit Revisionen von früheren Fällen akzeptiert werden?
Ich teile die Meinung von Herrn Meier, dass man diese Revisionsfälle neu aufrollen müsste. Es bleibt abzuwarten, wie das Bundesgericht in weiteren Fällen mit Gutachten ab dem Jahr 2022 entscheidet.

Die Pmeda ist seit knapp einem Jahr aus dem Verkehr gezogen – können Betroffene künftig auf eine faire Beurteilung hoffen?
Hoffen reicht nicht. Die Versicherten haben Rechte! In meiner Wahrnehmung ist es nicht nur Pmeda, die qualitativ mangelhafte Gutachten für die IV schrieb. Die Firma ist zwar nicht mehr aktiv, aber deren einzelne Ärzte dürfen unbehelligt weiterbegutachten. Auf der Liste der Gutachter-Zweierteams, die nach dem Zufallsprinzip für IV-Gutachten ausgelost werden, stehen mehrere Ärzte, die jahrelang für Pmeda gearbeitet haben. Ich kann einfach nicht fassen, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen verlauten lässt, darin sehe es kein Problem. Die Qualitätskontrollen der Eidgenössischen Kommission für Qualitätssicherung werden nicht aufhören. 

Was müsste sich Ihrer Meinung nach im ganzen System ändern?
Der Sozialstaat sollte die Menschen gegen die finanziellen Risiken von Krankheit oder Unfall absichern. Gleichzeitig verbucht die IV seit Jahrzehnten ein Defizit in Milliardenhöhe. Diese sehr schwierige Ausgangslage müssen wir ehrlich diskutieren. Der von alt Bundesrat Christoph Blocher in Umlauf gebrachte Begriff «Scheininvalide» hat die Diskussion vergiftet und wirkt bis heute nach. Der Rechtswissenschaftler Thomas Gächter von der Uni Zürich benennt das entscheidende Problem im Dokfilm: Das Parlament muss seine Verantwortung wahrnehmen.

Was spricht er damit an?
Wenn wir diese Versicherung wollen, müssen wir sie richtig finanzieren. Sonst müssten wir Leistungen abschaffen. Ich denke aber, da würde das Volk kaum mitmachen. Aktuell versprechen wir den Menschen Leistungen, die unterfinanziert sind und die nicht alle erhalten. Für wen die Leistungen erbracht werden und für wen nicht, wird meiner Meinung nach mit unlauteren Methoden entschieden. Zum Beispiel werden einzelne Krankheiten zu Unrecht als «unklare» Beschwerdebilder bezeichnet und bei den Leistungen diskriminiert. Damit sollten wir endlich aufhören. Bei der Früherfassung und der frühen Eingliederung der Versicherten – möglichst wenn sie ihren Arbeitsplatz noch haben – hat sich die Situation verbessert.

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