Dass eine Frau trotz Kleinkindern 80 bis 100 Prozent erwerbstätig ist, «entbehrt jeglicher Wahrscheinlichkeit». So jedenfalls sieht es die IV-Stelle Zug, dargelegt in einem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht.
Die Ausgangslage ist schnell erzählt: Eine junge Frau erkrankt 2016 derart schwer, dass sie nur noch eingeschränkt arbeitsfähig ist. Die IV-Stelle spricht ihr eine halbe IV-Rente zu. Die Frau kämpft darum, dass die IV sie dabei unterstützt, wieder im Arbeitsmarkt Fuss zu fassen – und bekommt das auch zugesichert. Doch bevor die Massnahmen greifen, wird sie 2019 schwanger.
Mutter von zwei Mädchen verliert Rente
Die IV-Stelle Zug stellt nach der Geburt des ersten Kindes die Eingliederungshilfe ein. Gegen den Willen der heute 38-jährigen Frau, die bereits eine Kinderbetreuung organisiert hatte. Als zwei Jahre später die zweite Tochter zur Welt kommt, stellt die IV-Stelle auch die Rentenzahlungen ein.
Begründung: Auch wenn die Frau gesund wäre, würde sie nicht mehr arbeiten, sondern sich um die Kinder kümmern. Alles andere sei «unrealistisch». Als Hausfrau hätte sie keinen Lohn, ergo auch keinen Anspruch auf eine IV-Rente. Die sei aus finanzieller Sicht auch nicht nötig. Der Vater der beiden Mädchen verdiene mit rund 6000 Franken im Monat genug.
«Unzulässige» Vermutung
Die Frau wehrt sich vor dem Zuger Verwaltungsgericht. Im Verfahren weist sie darauf hin, dass sie eine Ausbildung zur Betriebswirtin geplant hatte. Mit diesem Abschluss hätte sie ein vergleichbares Einkommen wie ihr Partner erzielen können. Zudem sei geplant gewesen, nach der Eingliederung die Kinder häufiger in der Kita betreuen zu lassen. All das habe die IV-Stelle Zug nicht berücksichtigt.
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Das Verwaltungsgericht Zug gibt der Frau nun recht. Die IV habe «unzulässigerweise» vermutet, dass junge Mütter nicht Vollzeit arbeiten. In seinem als Leiturteil bezeichneten Entscheid zitiert das Gericht Zahlen des Bundesamts für Statistik. 17 Prozent der Mütter mit Partner und Kindern unter drei Jahren waren demnach im Jahr 2022 voll erwerbstätig. Weitere 30 Prozent arbeiteten zwischen 50 und 89 Prozent. Die IV-Stelle habe das in der Bundesverfassung verankerte Gebot der Gleichstellung der Geschlechter verletzt. Die Frau bekommt weiterhin eine halbe Rente.
«Schweizweit standardisierter Fragebogen»
Konfrontiert mit dem Vorwurf, sie habe das Diskriminierungsverbot missachtet, nimmt die IV-Stelle Zug indirekt Stellung. Die Abklärungen im vorliegenden Fall seien einem schweizweit standardisierten Fragebogen gefolgt, schreibt sie auf Anfrage. «Damit wird sichergestellt, dass die Situation vor Ort fundiert, umfassend und unter diversen Gesichtspunkten beurteilt wird.» Das sei auch im vorliegenden Fall passiert.
Mutterschaft ist ein häufiger Grund für eine Revision der Rente. Dabei prüft die IV den Anspruch ein weiteres Mal umfassend, weil sie davon ausgeht, dass sich die Lebenssituation der Betroffenen geändert hat. Bei der Abklärung werden sie explizit gefragt, ob sie ohne Behinderung trotz der Kinder arbeiten würden – und wenn ja, wie viel. Wenn eine IV-Bezügerin bei der Frage angibt, dass sie im Gesundheitsfall 100 Prozent arbeiten würde, ist es an der IV-Stelle, das Gegenteil zu beweisen. Die Wünsche der Frauen mit dem Argument «unrealistisch» vom Tisch zu fegen, reicht nicht aus.
Väter werden anders behandelt
Und wie sieht das bei den Vätern aus? «Mir ist kein Fall bekannt, wo Vaterschaft automatisch zu einer Revision geführt hat», meint dazu Irene Rohrbach, Expertin für Sozialversicherungsrecht im Beobachter-Beratungszentrum.
Die IV-Stelle Zug sieht keinen Anlass, ihre Praxis zu ändern. Als der Beobachter explizit danach fragt, lautet die unverbindliche Antwort: «Die IV-Stelle ist sich der Bedeutung des Themas bewusst.» Die Mitarbeitenden würden im Umgang mit den Kundinnen und Kunden geschult. «Die Zusammenarbeit mit unseren Versicherten erfolgt mit der nötigen Sensibilität.»
Rollenbilder führen öfter zu IV-Rentenkürzungen
Letzteres ist im vorliegenden Fall nicht gelungen. Und vielen Müttern mit Behinderung geht es wie der betroffenen Zugerin, weiss Pro Infirmis aus Erfahrung. «Es ist leider kein Einzelfall, sondern ein generelles Problem», sagt Sprecher Philipp Schüepp. «Frauen wird bei den Abklärungen nahegelegt, sie hätten auch unabhängig von ihrer Behinderung wegen der Kinderbetreuung weniger gearbeitet. Dabei spielen Rollenbilder und der entstehende gesellschaftliche Druck sowohl bei den IV-Stellen als auch bei den Betroffenen eine Rolle – zum Nachteil der Frauen. Bei Männern stellen wir dieses Problem nicht fest.»