Annina Hess-Cabalzar (73) lässt ihrer Freundin Brida von Castelberg (72) zu Hause in Zürich einen Kaffee raus. Früher hatten die beiden Frauen mal überlegt, nach der Pension selber ein Café zu eröffnen. Dieser Plan ist nicht ganz aufgegangen. Es wurde ein Café der anderen Art, eines, in dem man mit medizinischen Fragen einkehrt.
Die beiden ehemaligen Spital-Kaderfrauen packen das heisseste Eisen der Politik an – und scheuen sich nicht, sich dabei die Finger zu verbrennen. Ihr Ziel ist es, das Gesundheitswesen umzukrempeln. Was auch nötig ist: Die Kosten sind in den letzten 20 Jahren um sagenhafte 74 Prozent gestiegen. Heute frisst unser Gesundheitswesen 1300 Franken – pro Sekunde!
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
Wir haben eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Warum eigentlich?
Annina Hess-Cabalzar: Wir haben eine für alle zugängliche Gesundheitsversorgung mit einem Riesenangebot. 2012 haben wir ein kommerzielles System eingeführt, das von vielen ausgenützt wird. Die Krankenkasse ist kein Abonnement, sondern ein Sozialwerk.
Brida von Castelberg: Je höher die Prämien, desto höher die Ansprüche. Das Vertrauen in die Selbstheilung des Körpers ist etwas verloren gegangen. Ein verstauchter Knöchel heilt meistens in drei Wochen von selbst.
Hess-Cabalzar: Niemand denkt mehr, dass es doch etwas Gutes ist, wenn man keine Leistung in Anspruch nehmen muss. Stattdessen versuchen viele, Ende Jahr noch unnötige Leistungen zu beziehen, wenn sie die Franchise abbezahlt haben. Es muss einem auch bewusst sein, dass zu viel Medizin schadet! Wenn ich als ältere Person jeden Tag 15 Tabletten nehmen müsste, würde ich mich schon fragen, ob das noch Sinn ergibt.
von Castelberg: Viele – vor allem junge – Menschen finden keinen Hausarzt mehr und gehen deshalb direkt in die Notaufnahme. Auch das treibt die Kosten in die Höhe.
Hess-Cabalzar: Es muss jetzt einfach ein Umdenken stattfinden. Aber bei allen, nicht nur bei den Patienten! Auch bei den Ärzten, in den Spitälern und bei den Krankenkassen.
Brida von Castelberg war Gynäkologin und bis 2012 Chefärztin der Frauenklinik am Stadtspital Triemli. Sie hat das Jobsharing auf Kaderebene eingeführt und wurde in den Medien auch schon als aufmüpfigste Chefärztin der Schweiz betitelt.
Die Psychotherapeutin Annina Hess-Cabalzar war bis 2012 Leitungsmitglied des Spitals in Affoltern am Albis. Sie ist Initiantin und Präsidentin der Akademie Menschenmedizin. In dieser Funktion hat sie mit einer interprofessionellen Gruppe ein öffentliches Manifest mit 13 radikalen Forderungen aufgestellt, um Bewegung in das leidige Thema Gesundheitskosten zu bringen. Unterschrieben von Chefärztinnen und Spitaldirektoren. Weil die Politik es seit Jahrzehnten nicht schafft, sich auf Lösungen zu einigen.
Mehr zum Prämienhammer
Die prägnantesten Forderungen: Ärztinnen und Ärzte, die nach der Ausbildung nicht im Beruf arbeiten, zahlen die Kosten ihres Studiums zurück. Privatkliniken berappen – wie im Fussball – eine Ablösesumme, wenn sie Medizinerinnen und Mediziner von öffentlichen Spitälern abwerben. Statt 56 Krankenkassen braucht es höchstens noch sieben. Ärztinnen und Ärzte verbringen wieder mehr Zeit bei den Patienten und weniger mit Büroarbeit. Es gibt eine unabhängige Ombudsstelle für das Gesundheitswesen. Und das Salär von Kaderleuten in Spitälern darf das eines Bundesrats, aktuell 472 958 Franken, nicht übersteigen.
Sie machen sich mit Ihren Forderungen sicher nicht nur beliebt, oder?
von Castelberg: Ja, es haben nicht alle Freude (lacht).
Hess-Cabalzar: Ganz ehrlich, Löhne von mehr als einer Million Franken auch in öffentlichen Spitälern haben nichts mehr mit Leistung zu tun, sondern mit Gier.
von Castelberg: Haus- und Kinderärztinnen verdienen zum Beispiel weniger als Radiologen und Chirurgen, sie sind aber keineswegs weniger kompetent.
Hess-Cabalzar: Dabei bräuchten wir mehr Haus- und Kinderärzte! Deshalb fordern wir auch geringere Unterschiede beim Lohn in den verschiedenen Fachbereichen. Aber das ist nichts Neues. Wir waren schon immer Revoluzzerinnen. Doch nun sind die Kosten derart aus dem Ruder gelaufen, dass die Zeit reif ist für unsere Forderungen. Inzwischen haben praktisch alle begriffen, dass es mit dem Gesundheitswesen so nicht weitergehen kann.
von Castelberg: Die Gesundheit ist kein Marktobjekt. Man kann sie nicht kaufen, anziehen, regulieren. Das ist fundamental. Wer einen Markt mit Wettbewerb installiert, muss sich nicht wundern, wenn jeder für sich das meiste herausholt.
Mit welchen Anliegen kommen die Menschen ins Café Med?
Hess-Cabalzar: Im heutigen System können sich die Ärztinnen und Ärzte oft nicht genug Zeit nehmen, die Diagnose und die Behandlung zu erklären. Im Café Med sind alle Fragen richtig, und es kann viel Zeit zur Besprechung angeboten werden.
von Castelberg: Was ich auch oft erlebe, ist, dass die Leute mit einem unguten Gefühl einer Empfehlung gegenüber kommen. Sie berichten, dass sie nicht bereit sind für die Operation, die ihnen empfohlen wurde. Und Alternativen werden leider oft nicht besprochen.
Hess-Cabalzar: Viele Menschen wollen auch wissen, was passiert, wenn man gar nichts unternimmt. Was das für Auswirkungen hätte. Was wichtig ist: Das Café Med ist für alle. Nicht nur für ältere Menschen. Auch Eltern dürfen gern kommen. Denn sobald kleine Kinder im Spiel sind, gibt es oft vermeidbare Unsicherheiten und Sorgen.
Sie könnten sich zur Ruhe setzen, die Pension geniessen. Stattdessen wollen Sie das Gesundheitswesen umkrempeln. Warum?
Hess-Cabalzar: Ich finde gar nicht, dass ich das Recht habe, einfach nichts zu tun. Jeder von uns soll Verantwortung übernehmen, egal, in welchem Alter wir sind.
von Castelberg: Es gibt viele ältere Menschen, die viel wertvolle Freiwilligenarbeit leisten – sei das nur, die Enkelkinder zu hüten! Wir wollen doch unser Leben sinnvoll verbringen. Und nicht einfach verblühen.
Hess-Cabalzar: Klar könnten wir auf dem Golfplatz sein. Aber jetzt ist auch die Zeit, in der wir frech sein können. Wir müssen gar nichts mehr befürchten – weder Konsequenzen im Job noch sonst wo. Wer soll sonst die Tabus brechen? Klar, wir werden nicht von allen nur geliebt, aber das ist uns in unserem Alter auch ziemlich egal.