Oberster Zürcher Stadtammann greift Vermieter an
«Es droht eine Kündigungswelle»

Immer mehr Mieter geraten in Zahlungsnot – und die Vermieter kündigen immer schneller. Betreibungsbeamte, Mieterverband und Caritas warnen vor einer Zeitbombe.
Publiziert: 13.08.2023 um 15:16 Uhr
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Aktualisiert: 19.10.2023 um 11:27 Uhr
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In Städten wie Zürich nehmen die Wohnungsausweisungen zu.
Foto: Getty Images
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Danny SchlumpfRedaktor SonntagsBlick

Die Teuerung setzt den Schweizern zu. Allein die Lebensmittelpreise stiegen im letzten Jahr um bis zu 20 Prozent. Eine halbe Million Bürger sind überschuldet, mehr als 700'000 leben in Armut. Die grossen Städte registrierten im ersten Halbjahr 2023 bis zu einem Fünftel mehr Betreibungen.

Besserung ist nicht in Sicht. Im September geben die Krankenkassen ihre nächste Prämienerhöhung bekannt. Ab Oktober bezahlen eine Million Haushalte höhere Mieten. Steigt der Referenzzinssatz im Dezember erneut, drohen im nächsten Jahr gar zwei von drei Haushalten markant höhere Wohnkosten.

Da geht es schnell ans Eingemachte, denn Wohnen und Energie sind der grösste Posten im Haushaltsbudget. Je tiefer das Einkommen, desto stärker fällt dieser Anteil ins Gewicht. «Die steigenden Mieten und Nebenkosten treffen aber längst nicht nur die Ärmsten», warnt Aline Masé, Leiterin der Fachstelle für Sozialpolitik bei der Caritas. «Immer mehr Haushalte bis in den Mittelstand geraten in Bedrängnis.» Das hindert Vermieter vielfach nicht daran, ihre Ansprüche kompromisslos durchzusetzen. «Die Angst vor Kündigungen nimmt zu», sagt Masé.

Versicherung nötigt Mieter zu mehr Zinsen

Solche Befürchtungen kommen nicht von ungefähr. Yves de Mestral ist Präsident der Konferenz der Stadtammänner und Stadtamtfrauen der Stadt Zürich. Als Betreibungsbeamter und Stadtammann setzt er im Auftrag der Gerichte auch Wohnungsausweisungen durch. Er sagt: «Immer mehr Mieter kommen mit ihrer Zahlungsfähigkeit an die Grenze.» Das sei aber nur die eine Seite des Problems. «Die Vermieter kündigen auch immer schneller.»

Der Stadtammann hatte in jüngster Zeit gleich mit mehreren Fällen zu tun, in denen bereits ein fehlender QR-Code zur Kündigung führte. So traf es einen Webdesigner, der seiner Bank die Informationen für die Anpassung des Dauerauftrags nicht mitgeteilt hatte. Die Bank stellte daraufhin die Mietzinszahlungen ein, obwohl er genügend Geld auf dem Konto hatte. Die Vermieterin, eine grosse Versicherung, fackelte nicht lange, kündigte dem Mieter und reichte einen Antrag auf Ausweisung ein.

Der Webdesigner bezahlte letztlich die ausstehenden Mietzinse und erhielt von der Versicherung sogar das Angebot, doch bleiben zu können. Der Haken: Das Angebot kam am Tag vor der angesetzten Ausweisung – und mit der Bedingung, künftig monatlich 300 Franken mehr Miete zu zahlen. «Abgesehen davon, dass der Mieter an sich genötigt wurde, den neuen Vertrag zu unterzeichnen, zeigt der Fall exemplarisch, worum es der Vermieterin im Endeffekt ging», so de Mestral.

Viele Ausweisungen wegen Zahlungsrückständen

Das Problem sei, dass es sich hier nicht um einen Einzelfall handelt, so der oberste Zürcher Stadtammann. «Vermieter beharren mittlerweile sogar auf Ausweisungen in Fällen, bei denen eine Kostengarantie des Sozialamts vorliegt.» Der Grund: «Der Wohnungsmarkt spielt faktisch nicht mehr, die Nachfrage ist viel grösser als das Angebot. Bei einer Neuvermietung kann die Miete fast nach Belieben erhöht werden.»

Im Kanton Zürich liegen demnächst die Nebenkostenabrechnungen in den Briefkästen. Im Oktober folgen die Mietzinserhöhungen. «Wenn ich das mit der offenkundig erhöhten Kündigungsbereitschaft vieler Vermieter kombiniere, wird mir mulmig», sagt de Mestral. «Das ist eine Zeitbombe. Es droht eine Kündigungswelle. Wenn wir das nicht in den Griff kriegen, wird in städtischen Zentren der soziale Frieden gefährdet.»

Andernorts machen die Betreibungsbeamten ähnliche Erfahrungen. «Über 60 Prozent der Ausweisungsurteile beruhen auf Zahlungsrückständen», sagt Oliver Pfitzenmayer, Leiter des Betreibungsamts Winterthur-Stadt. «Diese Entwicklung könnte sich in den kommenden Monaten verschärfen.» Es sei mit einer weiteren Zunahme der Ausweisungen zu rechnen. «Die Aussage, dass die bald anhebenden Mietzinserhöhungen beachtliches soziales Unruhepotenzial mit sich bringen, kann ich nur stützen.»

Zinserhöhungen und Nebenkosten überfordern Mieter

Der Grund für die gestiegene Kündigungsbereitschaft der Vermieter liege auf der Hand, sagt Walter Angst vom Mieterverband Zürich: «Sie stellen die aktuellen Bewohner vor die Tür, um anschliessend die Mieten zu erhöhen. Bei den Bestandesmieten ist das Erhöhungspotenzial sehr hoch, vor allem wenn es um langjährige Mietverhältnisse geht. Der Ertrag kann ohne Investitionen massiv erhöht werden.»

Im vergangenen Jahr stiegen die Marktmieten schweizweit bereits um drei Prozentpunkte, in Zürich gar um zehn. Walter Angst: «Insbesondere grosse Vermieter wie die Versicherungen haben ein hohes Interesse, möglichst rasch die aktuellen Marktmieten durchzusetzen, weil das ihre Renditeliegenschaften massiv aufwertet.»

Für Angst ist klar: «Die Mietzinserhöhungen und die steigenden Nebenkosten überfordern immer mehr Mieter.» Zahlungsverzüge führten rasch zur fristlosen Kündigung. «Und die kommunalen Hilfsangebote wie etwa Notwohnungen werden immer knapper. Da schlägt gerade eine soziale Bombe ein.»

Hauseigentümerverband wollen von nichts wissen

Die Vermieter sehen das anders. «Wir können die Vorwürfe nicht nachvollziehen», sagt die Versicherung Swiss Life, Besitzerin von 38 500 Wohnungen. «Die durchschnittliche Mietdauer unserer Mieterinnen und Mieter in unserem Wohnbestand ist unverändert sehr lang und liegt bei elf Jahren.» Der Axa-Konzern versichert, er spreche keine Kündigungen bei bestehenden Wohnungen zum Zweck der reinen Mietzinserhöhung aus.

Auch der Hauseigentümerverband (HEV) will von einer drohenden Kündigungswelle nichts wissen. Direktor Markus Meier: «Generell kann festgehalten werden, dass gerade private Vermieter grundsätzlich an langfristigen und vertrauten Mietverhältnissen interessiert sind.» Mieterwechsel brächten für Vermieter überdies einen nicht zu unterschätzenden Aufwand mit sich, der nicht unnötig gesucht werde.

Und: «Gerade bei Kündigungen sind die mietrechtlichen Schutzbestimmungen zugunsten der Mieter sehr ausgeprägt.»

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