Nach Nemos Sieg beim Eurovision Song Contest ist in der Schweiz die Debatte über den dritten Geschlechtseintrag neu entbrannt. Bereits am Sonntagmorgen nahmen Politikerinnen und Politiker Nemos Triumph zum Anlass, Diskussionen um das dritte Geschlecht anzustossen.
Denn: Nemo identifiziert sich als non-binär. Das heisst, dass Nemo sich weder als Frau noch als Mann identifiziert. Der Song «The Code», mit dem Nemo den ESC gewann, handelt von seiner Auseinandersetzung mit der eigenen Identität.
Doch was bedeutet non-binär eigentlich genau? Und warum gibt es in der Schweiz kein drittes Geschlecht für non-binäre Menschen? Blick liefert Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Was heisst non-binär?
Das innere Wissen einer Person, welches Geschlecht sie hat, bezeichnet man als Geschlechtsidentität. Bei Transmenschen ist es so, dass die Geschlechtsidentität nicht zu dem Geschlecht passt, das ihnen die Gesellschaft bei der Geburt gab.
Non-binäre Menschen hingegen identifizieren sich mit keinem Geschlecht oder fühlen sich nicht vollständig einem zugehörig. Sie identifizieren sich darum weder als Mann noch als Frau. Beim Outing im November 2023 schrieb Nemo auf Instagram, sich nie im eigenen Körper daheim gefühlt zu haben. Die Entdeckung der non-binären Geschlechtsidentität sei die bisher befreiendste Erfahrung gewesen.
Wie viele non-binäre Menschen gibt es in der Schweiz?
Zur Anzahl der non-binären Personen in der Schweiz gibt es keine offiziellen Zahlen. Im Bericht der Nationalen Ethikkommission von 2020 steht, dass für die Schweiz von 103’000 bis 154’000 Menschen mit non-binärer Geschlechtsidentität ausgegangen werden kann.
Die Schweiz hat gemäss einer Studie in 30 Ländern den höchsten Anteil an Menschen, die sich als transgender, non-binär oder gender-fluid identifizieren. Sechs Prozent der Befragten in der Schweiz bezeichneten sich vergangenes Jahr in der Studie des Umfrageinstituts Ipsos als transgender, non-binär, gender-fluid oder anders als männlich oder weiblich.
Wie spricht man non-binäre Menschen an?
Einige Non-Binaries bestehen darauf, ausschliesslich mit ihrem Namen angesprochen zu werden – dann schreibt man in einer E-Mail am besten: «Guten Tag Max Muster». Am einfachsten fragst du die Menschen, wie sie angesprochen werden möchten. Einige benutzen für sich das sächliche Pronomen «es». Andere «they/them», also die englischsprachige Plural-Form «sie/sie», die keinem Geschlecht zugeordnet werden kann.
Wie ist die rechtliche Situation?
In der Schweiz – und auch in vielen anderen Ländern – sind derzeit für das amtliche Geschlecht «weiblich» oder «männlich» die einzigen Optionen. Zwar wurde die binäre Änderung des Geschlechtseintrages in der Schweiz ab 2022 massiv vereinfacht. Allerdings sind Geschlechtseinträge für non-binäre Menschen momentan noch nicht möglich.
Warum steht die Schweizer Praxis in der Kritik?
Non-binäre Menschen beklagen oft eine strukturelle Diskriminierung in Bezug auf das non-binäre Geschlecht. So sind etwa non-binäre Menschen in der deutschen Sprache nicht vorgesehen. Heisst konkret: Im Deutschen existieren noch keine etablierten Pronomen der dritten Person für diese Menschen. Weiter sind auch viele bauliche, technische und soziale Strukturen – von Gesetzes wegen – einzig an den binären Geschlechtern ausgerichtet. Also etwa Toiletten, Garderoben, Duschen in Gebäuden, Sporteinrichtungen, Gefängnisse oder im Militärdienst.
Wie haben das unsere Nachbarländer geregelt?
In vielen Ländern wird darüber diskutiert, ob das binäre Geschlechtermodell noch einer modernen Gesellschaftsordnung entspricht. Insbesondere unsere Nachbarländer Deutschland und Österreich haben weitere Geschlechtsbezeichnungen eingeführt – oder gar die Möglichkeit, ganz auf einen Geschlechtseintrag zu verzichten.
In Deutschland können sich seit 2018 nicht-binäre Personen neben «männlich» und «weiblich» zwei weitere Eintragungsformen wählen: Sie können etwa den Geschlechtseintrag «divers» eintragen oder den Geschlechtseintrag komplett streichen lassen. Die Möglichkeit, den Geschlechtseintrag zu streichen, gibt es bereits seit 2013.
Der Verfassungsgerichtshof in Österreich stellte 2018 fest, dass intergeschlechtliche Menschen ein Recht auf Eintragung ihrer individuellen Geschlechtsidentität haben. Dort gibt es seit Mitte September 2020 darum sogar sechs Optionen zur Geschlechtseintragung: weiblich, männlich, inter, divers, offen oder «keine Angabe».
Warum funktioniert es dort und bei uns nicht?
Eine Änderung hätte weitreichende Konsequenzen. So müsste die Bundesverfassung angepasst werden, denn darin heisst es heute beispielsweise: «Mann und Frau sind gleichberechtigt.» Aber auch etwa im Bereich der Militär- und Ersatzdienstpflicht bräuchte es neue Regelungen für Personen, die nicht als männlich oder weiblich im Personenregister eingetragen sind.
Die zahlreichen Gesetze auf Bundes- und Kantonsebene, die geändert werden müssten, seien mit «erheblichem gesetzgeberischem Aufwand» verbunden, schrieb der Bundesrat in einem Bericht im Dezember 2022.
Was würde die Anerkennung eines dritten Geschlechts für non-binäre Personen konkret bedeuten?
«In der Schweiz leben bis zu 154’000 Personen. Sie alle sind bis heute nicht sichtbar und können ihre Geschlechtsidentität nicht eintragen lassen. Es ist psychisch belastend, jeden Tag ein Geschlecht vorzuspielen, dem man sich nicht zugehörig fühlt. Das würde sich ändern, wenn die Schweiz ein drittes Geschlecht einführen würde», sagt Lio Brändle (22), Mitglied von We Exist, ein Kollektiv, das sich für das Thema der rechtlichen Anerkennung von Menschen aus dem non-binären Spektrum einsetzt. Eine weitere Folge davon wäre, dass non-binäre Personen mit der Anerkennung des dritten Geschlechts juristisch auch vor Hate Crimes geschützt würden, so Brändle.
Wo steht die politische Debatte in der Schweiz?
In seinem Bericht aus dem Jahr 2022 sprach sich der Bundesrat gegen die Gleichstellung von nicht binären Menschen aus. Die Regierung folgte damit nicht den Empfehlungen der Nationalen Ethikkommission. Diese hatte sich bereits 2020 klar dafür ausgesprochen, den Geschlechtseintrag für alle Personen abzuschaffen oder zumindest weitere Geschlechtsoptionen einzuführen, um diesem Missstand entgegenzuwirken. Weil die jetzige Situation für nicht binäre Menschen unhaltbar sei, wie sie begründete.
In einem offenen Brief werden Bundesrat und Parlament aufgefordert, die gesetzlichen Grundlagen für ein drittes Geschlecht zu schaffen. Zu den Unterzeichnenden zählt das SP-Co-Präsidium Mattea Meyer (36) und Cédric Wermuth (38) sowie Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone (36) oder Kim De l'Horizon (32).
Was löst Nemos Sieg aus?
Nemo setzt sich für einen dritten Geschlechtseintrag in der Schweiz ein. Dass es in der Schweiz kein offizielles Anerkennungssystem für Personen mit einem dritten Geschlecht gibt, sei inakzeptabel und sollte geändert werden, so die Musikpersönlichkeit nach dem Sieg am ESC. Der zuständige Justizminister Beat Jans (59) zeigte sich am Sonntag bereit, Nemo zu einem Gespräch «auch über queere Rechte» zu treffen. Nemo selbst erklärte, sich auf einen baldigen Kaffee mit dem Justizminister zu freuen. Noch ist unklar, wann es zu diesem Gespräch kommen wird.