Mit einem Ultimatum machte Gesundheitsminister Alain Berset (48) den Trödel-Kantonen Feuer unter dem Hintern. Eigentlich mit Erfolg. Mehrere Kantone haben seither nachgebessert: Baselland, Graubünden, Schaffhausen, Solothurn, Thurgau, Tessin oder Zürich haben die Corona-Schutzmassnahmen verschärft – wenn auch in unterschiedlichen Ausmass. Weitere Kantone wollten ebenfalls noch handeln.
Umso überraschender kam am Dienstagabend die Ankündigung des Bundesrats, das Heft wieder stärker in die Hand zu nehmen und die Schrauben schweizweit anzuziehen. Die Ankündigung schlug nicht nur in der Öffentlichkeit ein wie eine Bombe, sondern auch bei den Kantonen. Besonders in der Westschweiz ist die Empörung riesig.
Schweizweiter Beizen-Lockdown
Doch nicht alle Kantone schimpfen über den Bundesrat. Einige stärken ihm auch den Rücken. Der Zeitpunkt überrasche zwar, sagt die Solothurner SP-Gesundheitsdirektorin Susanne Schaffner (58) zu BLICK. «Aber die epidemiologische Lage ist ernst und aus Sicht des Solothurner Regierungsrates ist es nachvollziehbar, dass der Bundesrat schweizweit strenge und einheitliche Massnahmen erwartet und nun auch durchsetzen will.»
Ihr Kanton hat teils bereits strengere Massnahmen ergriffen. Schaffner geht noch einen Schritt weiter: «Bezüglich der Restaurants würden wir aufgrund der besorgniserregenden Situation eine vollständige Schliessung als zweckmässig erachten.» Zentral sei nun, dass die Fallzahlen rasch und deutlich sinken würden.
Der Präsident der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren Lukas Engelberger (45) hält sich vornehm zurück. Doch auch der Basler Regierungsrat findet, dass es «vor den Festtagen noch einmal eine gemeinsame Kraftanstrengung braucht». Im Stadtkanton sind Bars und Restaurants schon seit Ende November geschlossen, genauso wie Hallenbäder oder Fitnesscenter.
St. Gallen will zurück in ausserordentliche Lage
Auch in Glarus stösst der Bund auf Wohlwollen. «Ich verstehe die grosse Sorge des Bundesrates sehr gut», sagt CVP-Gesundheitsdirektor Rolf Widmer (49). Es brauche klare, einheitliche und zweckmässige Massnahmen. Denn: «Ich befürchte, dass wir mit Blick auf die bevorstehenden Fest- und Feiertage vor der grössten Herausforderung seit Ausbruch der Pandemie stehen.»
Selbst der Trödel-Kanton St. Gallen plädiert nun sogar dafür, dass der Bundesrat wieder die ausserordentliche Lage ausruft. Der Kanton selber wolle aber erst am Samstag über verschärfte Massnahmen entscheiden, wenn die Vorgaben des Bundes bekannt sind, führte Regierungsrat Bruno Damann (63) am Mittwoch vor den Medien aus.
Die Nidwaldner Regierung wiederum vermisst beim Bundesrat die nötige Transparenz. Sie kann aber nachvollziehen, dass die Landesregierung die zunehmend vielfältigen kantonalen Massnahmen vereinheitlichen will. Und der Kanton Aargau, der anfangs Woche noch keine weiteren Massnahmen ergreifen wollte, begrüsst nun das Vorgehen des Bundesrats. Das entspreche der vom Kanton in den kommenden Wochen geplanten Stossrichtung.
Aufschrei in der Westschweiz
Gross ist der Aufschrei hingegen in der Westschweiz, welche die Fallzahlen in den letzten Wochen deutlich drücken konnte. «Respektlos» nennt der Genfer Staatsrat Mauro Poggia (61) die Bundesratspläne gegenüber diversen Medien. Auch die Walliser sind sauer. So flucht der Walliser Staatsrat Roberto Schmid (58): «Eine Frechheit!»
Die welschen Kantonsregierungen seien «irritiert», so der jurassische Gesundheitsdirektor Jacques Gerber (47) im Kantonsparlament. «Es ist das erste Mal seit Beginn dieser Krise, dass uns der Bundesrat vor vollendete Tatsachen stellt.» Sechs Westschweizer Kantone – Waadt, Freiburg, Neuenburg, Jura, Wallis sowie Bern – kritisieren in einer gemeinsamen Stellungnahme das Vorgehen des Bundesrats. Sie sind mit dem Umfang der neuen Massnahmen «nicht einverstanden und bedauern die Art und Weise, in der sie vorbereitet wurden».
Es sei inakzeptabel, dass solche restriktiven Bestimmungen den Kantonen auferlegt würden, «die ihre Verantwortung übernommen, schwierige und einschneidende Entscheide» getroffen hätten.
Die sechs Kantone fordern Anpassungen in vier Punkten. So sollen sich auch am Wochenende vom 19./20. Dezember bis zu zehn Personen im privaten Kreis treffen können. Weiter soll die mögliche Schliessung der Bars um 19 Uhr von jener der Gastronomiebetriebe differenziert werden, «um einen Abendservice unter strikter Einhaltung der Schutzkonzepte zu ermöglichen». An Sonn- und Feiertagen soll es keine zusätzlichen, spezifischen Massnahmen geben. Und in Theatern, Kinos und Konzertsälen müsse die Möglichkeit bestehen, unter strikter Einhaltung der Schutzkonzepte bis zu 50 Personen zu empfangen.
Baselland sistiert Verschärfung
Gross ist der Unmut auch im Kanton Graubünden. Dieser verkündete am Freitag einen zweiwöchigen Beizen-Lockdown, um die Wintersaison zu retten.
«Das ist ein Affront gegenüber jenen Kantonen, die Massnahmen ergriffen haben», wetterte der Bündner CVP-Regierungsrat Marcus Caduff im Grossen Rat über die Bundespläne. «Ich kann nicht verstehen, dass der Bund nun jene Kantone bestraft, die reagiert haben – wegen jenen, die nicht reagiert haben.» Die Bündner Regierung will die Pläne bekämpfen.
Die Baselbieter Regierung wurde ebenfalls kalt erwischt, bestätigt Regierungssprecher Nic Kaufmann: «Der Regierungsrat war über den Inhalt der Bundesratssitzung nicht informiert.» An der Besprechung zwischen den Delegationen von Regierungsrat und Bundesrat am Samstag sei das kein Thema gewesen. «Die Baselbieter Regierung ist sehr erstaunt über das Vorgehen des Bundesrats und vermisst die Transparenz gegenüber den Kantonen.» Als Reaktion hat der Kanton nun beschlossen, die bereits kommunizierten Verschärfungen wieder auf Eis zu legen. Damit wolle man verhindern, dass «widersprüchliche Entscheide von Bund und Kanton die Bevölkerung verunsichern», heisst es in einer Mitteilung.
Auch in Zürich hält sich die Begeisterung in Grenzen, hat der Kanton doch erst selbst strengere Massnahmen beschlossen. «Der Regierungsrat beurteilt die Lage zusammen mit seinem Sonderstab Covid-19 laufend und analysiert dabei auch die allenfalls vorgesehenen Bundesmassnahmen», sagt Regierungssprecher Andreas Melchior. «Dass der Bundesrat bereits gestern neue Massnahmen in Aussicht gestellt hat, überrascht und irritiert den Regierungsrat aus staatspolitischer Sicht. Er wird dies dem Bund entsprechend kundtun, da dem Regierungsrat eine konstruktive Zusammenarbeit mit Bundesbern wichtig ist.»
Die Berner Regierung wiederum begrüsst, dass der Bundesrat bei den Massnahmen gegen die Ausweitung der Corona-Pandemie eine landesweit einheitliche Regelung anstrebt. Sie hält aber einzelne Massnahmen für zu scharf. So plädiert die Berner Regierung dafür, die Restaurants ab Samstag nicht schon um 19 Uhr, sondern erst ab 21 Uhr zu schliessen. An privaten Veranstaltungen sollten nach Ansicht des Berner Regierungsrates bis Anfang Januar 2021 nicht nur fünf, sondern weiterhin zehn Personen teilnehmen können.
Vom Halbierungs-Ziel weit entfernt
Ob der Bundesrat am Freitag zurückbuchstabiert? Wohl eher nicht. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (60) hatte am Dienstag betont, dass es bloss noch um Details gehen werde. Der Bundesrat steht dem Vernehmen nach für einmal geschlossen da.
Fakt ist nämlich: Die Corona-Fallzahlen stagnieren oder steigen wieder leicht an. Die Schweiz ist von ihrer Zielsetzung, die Fallzahlen alle zwei Wochen zu halbieren, weit entfernt. Gemäss ETH-Monitoring liegt der Reproduktionswert schweizweit bei 1,01. Das heisst: 100 Infizierte stecken 101 Personen an. 18 Kantone weisen einen R-Wert von 1 oder höher aus – alle in der Deutschschweiz.
Für das Halbierungsziel muss der R-Wert unter 0,8 fallen – das Erreichen derzeit nur die Kantone Genf und Jura. Bedeutet: Auch in der Romandie liegt vieles noch nicht im grünen Bereich. Da kommen die in verschiedenen Kantonen angekündigten Lockerungen ungelegen. Erst recht, da die R-Werte derzeit schweizweit wieder ansteigen, wie die wissenschaftliche Taskforce warnt.
Wettbewerb unter Kantonen behindert Bekämpfung der Pandemie
Auch die Experten der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) plädieren für landesweite Lösungen. Die unkooperative Form des Schweizer Föderalismus verhindert eine wirksame Bekämpfung der Pandemie, erläuterten sie am Mittwoch vor den Medien.
In der Schweiz setze man mehr auf Wettbewerb. Dieser drücke sich etwa dann aus, wenn die Kantone versuchen, Lockerungsschritte einzuleiten, so KOF-Direktor Jan-Egbert Sturm. Ein Problem sei ebenfalls, dass viele Kantone die Massnahmen ihrer Nachbarkantone abwarteten. Denn deren ergriffenen Einschränkungen helfen auch dem eigenen Kanton - ohne die finanziellen und gesellschaftlichen Lasten zu tragen.