Es ist eine Sensation! Zum ersten Mal sagt das Stimmvolk Ja zu einer linken Sozialausbau-Initiative. Und das deutlich: Mit 58,2 Prozent Ja und der Zustimmung von 15 zu 8 Ständen wurde die Initiative für eine 13. AHV-Rente angenommen. «Das Resultat ist historisch», freute sich Gewerkschaftsboss und SP-Ständerat Pierre-Yves Maillard (55, VD) mit Tränen in den Augen. «Die Leute glauben an die AHV!»
Schon vor dem Mittag mit den ersten Aargauer Gemeinden hatte sich die Sensation angekündigt, doch verschreien mochte es im Volkshaus in Bern, wo sich Gewerkschaften, Linke und Grüne trafen, niemand. Umso grösser war der Jubel, als um 12 Uhr der Ja-Trend verkündet wurde. Als am Nachmittag auch das Ständemehr geknackt war, lagen sich die Initianten feiernd in den Armen.
«Das Resultat ist so klar, einfach fantastisch», so Maillard. Auch glücklich darüber, dass damit eine Spaltung der Sprachregionen und Generationen verhindert worden sei. «Das Ja ist auch eine Anerkennung für die Leistungen der Senioren – etwa im Bereich der Kinderbetreuung.»
Die Gründe für das Ja
Es mag eine Sensation sein, aber keine Überraschung. Dass eine Gewerkschafts-Initiative, die einen milliardenteuren Sozialstaatsausbau fordert, ein solches Resultat schafft, hat Gründe:
Die Kaufkraft: Explodierende Krankenkassenprämien, höhere Stromkosten, steigende Mieten, allgemeine Teuerung. Die breite Bevölkerung musste in den letzten Jahren einen deutlichen Kaufkraftverlust hinnehmen. Besonders auch die Rentner: Auch wenn sie auf die AHV einen Teuerungsausgleich erhalten, gehen die meisten bei den Pensionskassen-Renten leer aus. Real bleibt damit weniger Geld im Portemonnaie. Die 13. AHV-Rente bietet einen willkommenen Ausgleich.
Das Geld: 4 bis 5 Milliarden Franken kostet der AHV-Ausbau jährlich. Eine Summe, die vor wenigen Jahren noch zu einem Abstimmungsdebakel geführt hätte. Doch Corona sorgte für eine Zäsur. Da machte der Staat 30 Milliarden locker. Für die CS-Rettung wären gar mit 200 Milliarden Franken parat gestanden. Gleichzeitig ist das Bundesbudget innert weniger Jahre von gut 70 auf deutlich über 80 Milliarden Franken angewachsen und wird 2027 die 90-Milliarden-Marke überschreiten. Geld, so der Eindruck, ist beim Staat in rauen Mengen vorhanden. Ein paar Milliarden mehr oder weniger schrecken da nicht mehr ab.
Die Kampagne: Wirtschaft und Bürgerliche haben die Gefühlslage der Bevölkerung lange unterschätzt. Die Gewerkschaften hingegen haben das Feld mit ihrer Kaufkraft-Kampagne monatelang beackert. Die bürgerlichen Versprechungen in letzter Sekunde, bedürftigen Rentnern unter die Arme greifen zu wollen, waren nicht nur hilflos, sondern auch unglaubwürdig. Der Nein-Aufruf von fünf alt Bundesräten war für viele Senioren eine Ohrfeige. Und wurde so zum Rohrkrepierer.
Sozialpolitische Zeitenwende?
Doch ist damit die sozialpolitische Zeitenwende angebrochen? Marschieren Gewerkschaften und Linke nun einfach durch, etwa im Juni bei der Prämienentlastungs-Initiative und im Herbst beim Referendum gegen die Pensionskassen-Reform?
Es wird zumindest spannend. Wie bei der 13. AHV-Rente wird auch bei diesen beiden Vorlagen das klassische Links-Rechts-Schema durchbrochen. Maillard gibt sich denn auch optimistisch. «Es sind Hauptprobleme der Kaufkraft-Krise: Tiefe Renten und hohe Krankenkassenprämien.» Nach dem jetzigen Ja habe das Stimmvolk im Juni bei den Prämien die Möglichkeit, mit einer gezielten Kostendeckelung insbesondere Junge und Familien zu entlasten.
Ein verlockendes Angebot, das durchaus auch im bürgerlichen Lager auf Sympathien stösst. Trotzdem bleibt die Hürde für die Initianten hoch. Die zusätzlichen Kosten von jährlich 4 bis 5 Milliarden Franken für Bund und Kantone dürften – gerade nach dem milliardenschweren AHV-Ja – viele abschrecken. Zudem liegt ein indirekter Gegenvorschlag vor, der immerhin 350 Millionen Franken zusätzlich für Prämienverbilligungen vorsieht. Und diesmal werden sich Wirtschaft und Bürgerliche auch kampagnenmässig nicht auf dem falschen Fuss erwischen lassen.
Vetomacht gestärkt
Bei der Pensionskassen-Reform hingegen halten Linke und Gewerkschaften die besseren Karten in der Hand. Eine Sotomo-Umfrage zeigte jüngst einen Nein-Anteil von 56 Prozent. Nur 33 Prozent waren dafür, der Rest noch unentschlossen. Dieses Bild könnte sich noch akzentuieren, da sich eine unheilige Allianz zwischen Gewerkschaften und Teilen des Gewerbes abzeichnet. Während die Gewerkschaften beklagen, dass aus zusätzlichen Abgaben tiefere Renten resultieren würden, fürchtet vor allem das Tieflohn-Gewerbe zusätzliche Lohnkosten. Beispielsweise die Bauern, aber auch der Gastrobereich.
Schon jetzt ist klar: Linke und Gewerkschaften gehen gestärkt aus den sozialpolitischen Auseinandersetzungen hervor. Sie können nicht nur Referenden gewinnen, sondern auch Initiativen. Als Vetomacht werden sie bei den kommenden Sozialreformen ein gewichtiges Wörtchen mitzureden haben. «Die bürgerlichen Parteien müssen verstehen, dass sie ihre politische Agenda ändern müssen», sagt Maillard. «Sonst wird es schlimm für sie.»