Auf einen Blick
Es ist ein kalter Wintertag, in Thun liegt Schnee. «Das Wetter gefällt mir nicht so gut, es ist viel zu kalt hier», sagt Jahanzib Dwalatzei. Als 17-Jähriger kam er aus Afghanistan in die Schweiz und lebt nun seit gut vier Jahren hier. Hinter ihm liegt eine beschwerliche Flucht über Pakistan, Iran und die Türkei. Mit dem Lastwagen ging es weiter bis nach Deutschland und von dort das letzte Stück mit dem Zug. «Alles war neu. Bevor ich in die Schweiz kam, wusste ich nicht einmal, dass man hier Deutsch spricht.»
Allein in der Schweiz
Letztes Jahr stellten mehr als 3000 UMA ein Asylgesuch. UMA steht für «unbegleitete minderjährige Asylsuchende». Sie lassen in ihrem Heimatland alles hinter sich und machen sich allein auf den langen Weg nach Europa.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Die grosse Mehrheit der UMA in der Schweiz kommt aus Afghanistan, fast 90 Prozent sind junge Männer, die meisten zwischen 16 und 17 Jahre alt. Der Grund, warum sich viele junge Menschen für eine Flucht aus Afghanistan entscheiden, ist die instabile Lage im Land. Seit Jahren leidet die Bevölkerung unter bewaffneten Konflikten, politischer Verfolgung und grosser Armut. Seit der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban im Jahr 2021 hat sich die Krise weiter verschärft. Frauen und Mädchen werden vom neuen Regime unterdrückt, ethnische Minderheiten verfolgt.
Minderjährige erhalten Beistand
Sher Ali, auch er aus Afghanistan, war sogar noch jünger, als er sich auf den Weg machte. «Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Ein Schulgebäude hatten wir nicht, der Unterricht fand unter freiem Himmel statt.» Die Welt sehe in seiner Heimat ganz anders aus als in Europa. Mit 15 kam er in die Schweiz. «Auf der Flucht hatte ich manchmal Angst. Aber hier sind alle sehr, sehr nett und versuchen immer zu helfen.»
Die erste Station nach der Ankunft der UMA ist ein Bundesasylzentrum, wo sie einige Tage bis Wochen verbringen. Dort stellen sie ein Asylgesuch und haben ihre ersten Deutschkurse. Danach werden sie auf die Kantone verteilt, die sich fortan um die Jugendlichen kümmern. Ali und Dwalatzei kamen beide nach Huttwil im Kanton Bern in ein sogenanntes Ankunftszentrum.
Bis zu ihrem 18. Geburtstag haben die jungen Geflüchteten Anspruch auf besonderen Schutz und Unterstützung. Für Verpflegung, Unterkunft und Betreuung ist gesorgt. Ausserdem erhalten sie einen Beistand und bekommen in manchen Kantonen psychologische Unterstützung.
Mit 18 wird alles anders
Mit der Volljährigkeit ändert sich das schlagartig. Von da an sind die Geflüchteten auf sich allein gestellt. Sie müssen sich um ihre Rechnungen kümmern, eine eigene Unterkunft finden und sich in der Arbeitswelt zurechtfinden. Dass sie ohne Familie in der Schweiz sind, erschwert den Übergang zusätzlich.
Es sei sehr schwierig gewesen, sagt Jahanzib Dwalatzei, wenn er an diese Zeit vor vier Jahren denkt. Er konnte zum Beispiel nicht kochen. Und er verstand nicht, was in den vielen Briefen stand, die ihm ins Haus flatterten.
Sher Ali, der erst vor wenigen Monaten 18 geworden ist, hat noch mit der Umstellung zu kämpfen. «Mein Leben wurde ein bisschen stressig. Ich fühle mich noch nicht bereit, neben der Schule alles selbständig zu machen.» Nach eineinhalb Jahren intensiven Deutschunterrichts wechselte Ali an eine berufsintegrierende Schule. Zwei Jahre haben die jungen Erwachsenen Zeit, ihre Deutschkenntnisse zu verbessern und eine Lehrstelle zu finden.
Gymnasium ist die Ausnahme
Doch eine Lehre sei nichts für ihn, sagt Ali. «Ich wollte schon immer lernen und studieren.» Seit er im Deutschunterricht ein Gymnasium besucht hatte, war klar: Er wollte auch an so eine Schule. Kurze Zeit später erhielt er die Chance, an einer Mittelschule für ein halbes Jahr zu hospitieren, danach schaffte er den Sprung ans Gymnasium.
Für junge Asylsuchende ist dieser Weg ans Gymnasium die Ausnahme. Gerade mal vier Prozent der jungen Asylsuchenden befinden sich in einer Ausbildung auf Sekundarstufe-II-Niveau.
Besonders Mathematik und Physik haben es dem Gymnasiasten angetan. «Da finde ich mich zurecht, weil die Sprache nicht so wichtig ist.» Ob Sher Ali später studieren will, weiss er noch nicht. Mühe hat er mit Französisch und Deutsch. «Ich besuche dafür noch zwei Stützkurse. Und wenn ich Schwierigkeiten mit einem Thema habe, kann ich mich bei den Lehrkräften melden.»
Wer eine Lehrstelle will, braucht Geduld
Sher Ali hat seinen Weg in der Schweiz gefunden, doch nicht allen fällt das gleich leicht. Wie Ali besuchte auch Jahanzib Dwalatzei eine berufsintegrierende Schule. Danach wollte er eine Lehre anfangen.
Doch bei ihm klappte es nicht auf Anhieb. «Ich habe mehr als zehn Schnupperlehren gemacht. Aber ich hatte keine Chance, eine Stelle zu bekommen», erzählt Dwalatzei. Er erhielt Absage auf Absage. Immer wieder mit derselben Begründung: Seine Deutschkenntnisse reichen nicht aus. Er suchte weiter, lernte Deutsch und fand schliesslich eine vorübergehende Anstellung in einem Hotel in Interlaken.
Ausbildung statt Sozialhilfe
Seine Hartnäckigkeit zahlte sich aus. «Ich arbeite sehr gern und bin froh, dass ich jetzt eine Lehre als Maler gefunden habe», sagt Dwalatzei. Im nächsten Sommer beginnt seine Ausbildung, bis dahin wird er sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Sozialhilfe will der Afghane vorerst nicht mehr beziehen. Das gehe auch vielen Bekannten so – lieber wollen sie arbeiten, sagt er.
Statistiken des Staatssekretariats für Migration unterstreichen das. Demnach absolvieren rund 50 Prozent der Geflüchteten zwischen 16 und 25 Jahren innerhalb von drei Jahren eine Ausbildung in der Schweiz. Diese Zahl hat deutlich zugenommen, Tendenz steigend. Meist führt der Weg zu einer Ausbildung über eine berufsintegrierende Schule mit anschliessender Berufslehre.
Zwischen zwei Welten
Für eine gelungene Integration ist der Anschluss in der Berufswelt wichtig. Doch auch wenn das gelingt, bleibt der Alltag oft schwierig. «Ich fühle mich zwischen zwei Kulturen und zwei Welten. Meine Vergangenheit kann ich nicht einfach so loslassen», sagt Sher Ali.
In seiner Schule habe niemand den gleichen Hintergrund wie er, darum fühle er sich oft allein. Wenn es ihm wieder einmal zu viel wird, schreibt er – um den Kopf leer zu bekommen. Am liebsten würde er ein Buch verfassen, «über meine Erfahrungen, aber auch über eine Welt, die es nicht gibt, so etwas wie eine Utopie».
Auch Jahanzib Dwalatzei hat es nicht leicht, in der Schweiz Anschluss zu finden. «Ich vermisse meine Familie jede Sekunde», sagt er, seine Stimme wird traurig. Nach seiner Ankunft konnte er fast ein halbes Jahr keinen Kontakt zu seiner Familie herstellen, das bereitete ihm grosse Sorgen. Heute telefoniert er wieder regelmässig mit seinen Verwandten.
Halt durch Ersatzfamilie
Oft sind es aussenstehende Schweizer Freiwillige, die den jungen Geflüchteten in schwierigen Phasen oder bei alltäglichen Problemen zur Seite stehen. Wenn Ali etwas beschäftigt oder er Hilfe braucht, wendet er sich an einen pensionierten Lehrer, den er bei der Hausaufgabenhilfe kennengelernt hat.
Auch Dwalatzei hat eine Art Ersatzfamilie gefunden. Kurz nachdem er das Ankunftszentrum hatte verlassen müssen, lernte er an einem Anlass ein pensioniertes Paar kennen. Die beiden boten ihm eine Unterkunft bei sich an und unterstützten ihn beim Deutschlernen und bei der Eingewöhnung in der Schweiz. «Ich bin dieser Familie sehr dankbar», sagt Dwalatzei gerührt. Obwohl er inzwischen ausgezogen ist, versucht er, sie alle zwei Wochen zu treffen. Halt gibt ihm auch der Sport – Fitness und Volleyball.
Ungewisse Zukunft
Wohin der Weg die beiden jungen Männer führen wird, ist ungewiss. Jahanzib Dwalatzei ist glücklich in der Schweiz – abgesehen vom Wetter. «Auf der Flucht habe ich mehr als zehn Länder gesehen, doch am besten gefällt es mir hier.» Mit der Malerlehre soll sein Ausbildungsweg noch nicht zu Ende sein. «Mein Traum ist es, einmal selbständiger Zahnarzt zu werden.»
Sher Ali hingegen weiss noch nicht, wie es für ihn beruflich weitergeht. Vielleicht will er Sozialarbeiter werden, um anderen Flüchtlingen zu helfen. Sein grösster Wunsch für die Zukunft: «Ich möchte einfach, dass alles normal wird. Ich will so sein wie die anderen.»