Gewerkschaften fordern mehr Kohle in Krisenzeiten
Heizungen runter, Löhne rauf

Die Wirtschaft verlangt von der Bevölkerung, ihr beim Stromsparen zu helfen. Bei der Forderung nach höheren Löhnen aber ziert sie sich.
Publiziert: 04.09.2022 um 17:11 Uhr
1/11
Gürtel enger schnallen, Pullover überziehen – die Direktive ist klar: Die Schweizer Bevölkerung soll für die Wirtschaft schlottern.
Foto: keystone-sda.ch
Sven Zaugg

Im Grunde haben Stefan Brupbacher (54) und Monika Rühl (59) den gleichen Beruf – sie arbeiten als Interessenvertreter: Er ist Geschäftsführer von Swissmem, dem Verband der Maschinen- und Elektroindustrie, sie ist Direktorin des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse. Gemeinsam warben sie beim Bundesrat dafür, dass nicht nur die Wirtschaft Strom sparen müsse, sondern auch die privaten Haushalte.

Am Mittwoch nun lud die Landesregierung die beiden zur Medienkonferenz nach Bern. Dort durfte Brupbacher dann an die gesamte Schweizer Bevölkerung appellieren, ab sofort Energie zu sparen, um eine Strom- und Gasmangellage zu verhindern. Und Rühl betonte, der soziale Frieden in der Schweiz könnte bedroht sein, wenn die Energie knapp werde.

Gürtel enger schnallen, Pullover überziehen – die Direktive ist klar. Und so werden in den heimischen Stuben womöglich bald tiefere Temperaturen herrschen. Aus Solidarität mit unserer Wirtschaft. Winter is coming.

Preissteigerungen für Haushalte «verkraftbar»

Zugleich wird das alltägliche Leben immer teurer: Im August lagen die Konsumentenpreise um 3,5 Prozent höher als vor einem Jahr – und damit auf dem höchsten Niveau seit den frühen 1990er-Jahren. Hinzu kommen steigende Krankenkassenprämien: Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Accenture muss in einzelnen Kantonen mit einem Prämienschock von bis zu zehn Prozent gerechnet werden. Und dann sind da noch die steigenden Nebenkosten. Der Mieterverband geht von Mehrausgaben von bis 1500 Franken aus – pro Jahr und Haushalt.

Doch während Bund und Wirtschaft von den Menschen im Land Solidarität einfordern, zeigen sie sich ihrerseits wenig solidarisch. Die Landesregierung ist der Ansicht, die bisherigen Preissteigerungen seien für die Haushalte «verkraftbar».

Ein Teuerungsausgleich sollte gar nicht zur Debatte stehen

Auch an der Lohnfront zeichnet sich ein harter Verteilkampf ab, wie ihn die Schweiz seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat: Die Gewerkschaften fordern generell vier bis fünf Prozent mehr Lohn. Pierre-Yves Maillard (54) sagte am Freitag vor den Medien: «Angesichts der horrend gestiegenen Kosten sollte man in einem Land, in dem sich die Arbeitgeberverbände angeblich um nationale Eintracht und sozialen Frieden bemühen, eigentlich erwarten, dass zumindest der allgemeine Teuerungsausgleich gar nicht erst zur Debatte steht.» Der SGB-Präsident ergänzte: «Verglichen mit den Forderungen der Elektrizitätsanbieter sind unsere bescheiden.»

Die Arbeitgeber kontern mit der Angst vor «wirtschaftlich unsicheren Zeiten». Ein Argument mit langer Tradition: Finanzkrise, starker Franken, Corona-Krise, Energiekrise. Kein Jahr ohne Krise.

Arbeitgeber-Präsident: «Eine generelle Lohnerhöhung ist unrealistisch»

Arbeitgeber-Präsident Valentin Vogt sagt: «Ich will verhindern, dass sich die Arbeitnehmer falsche Hoffnungen machen.» Aufgrund des Fachkräftemangels in der Gastronomie, der Informatik und anderen Branchen, sei es durchaus möglich, dass die Löhne dort überdurchschnittlich steigen werden: «Eine generelle Lohnerhöhung, wie sie die Gewerkschaft fordert, ist unrealistisch.» Teuerung hin, gestiegene Fixkosten her.

Das sind keine guten Nachrichten, am wenigsten für fast 160'000 Menschen, die in der Schweiz als «Working Poor» gelten und selbst mit harter Arbeit ihre Fixkosten nicht mehr berappen können.

Es wird aber auch für Haushalte eng, deren Einkommen knapp über der Armutsgrenze von 4000 Franken liegt. Laut Bundesamt für Statistik gelten in der Schweiz 722'000 Menschen als einkommensarm. Die meisten von ihnen wohnen in Städten, also dort, wo vornehmlich mit Gas geheizt wird – und wo die Preise explodieren.

Laut Experte wären Lohnerhöhungen machbar

Aber kann sich die Schweizer Wirtschaft Lohnerhöhungen wirklich nicht leisten?

«Doch», sagt Arbeitsmarktexperte Michael Siegenthaler von der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich: «Gewinn und Umsatz vieler Unternehmen sind im ersten Halbjahr gestiegen. Es herrscht praktisch Vollbeschäftigung, einzelne Branchen suchen händeringend nach Fachkräften.» Deren Verhandlungsmacht sei in diesem Jahr besonders gross, so Siegenthaler weiter.

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.

Ob die Arbeitnehmenden aber tatsächlich mit einem markanten Lohnsprung rechnen dürfen, hängt stark von der jeweiligen Branche ab. Gemäss Umfragen der KOF bei den Betrieben dürfen allen voran die Angestellten im Gastgewerbe mit deutlich mehr Lohn rechnen (plus 4,5 Prozentpunkte). Das verarbeitende Gewerbe rechnet mit 2,2 Prozentpunkten mehr in der kommenden Lohnrunde, der Bau mit 2,3. Am schlechtesten kommt weg, wer im Detailhandel arbeitet (plus 1,6) .

Was bleibt? Ganz einfach: Knausern die Unternehmen weiterhin bei den Lohnforderungen der Angestellten, steigen die Preise ungebremst weiter, tritt zudem tatsächlich eine Mangellage ein, dann dürfte der von Economiesuisse-Präsidentin Rühl beschworene soziale Frieden in der Schweiz tatsächlich bedroht sein.

Fehler gefunden? Jetzt melden

Was sagst du dazu?