Bereits 90 Jahre ist sie alt, die 113 Meter hohe Spitallamm-Staumauer an der Grimsel im Berner Oberland. Sie gilt als Jahrhundertbauwerk der Wasserkraft und ist mit ihren vier Turbinen weiter unten im Tal Stromgarantin für eine halbe Million Haushalte. Besonders im Winter, wenn der Energiekonsum hierzulande hoch ist. Doch die alte Mauer ist sanierungsbedürftig. Bereits seit drei Jahren zieht ein Heer von Spezialisten deshalb auf der Talseite einen zweiten Damm hoch. Kosten: 125 Millionen Franken. 2025 soll die neue Staumauer fertig sein – fast fertig.
«Eigentlich hätte der neue Damm um 23 Meter höher werden sollen», sagt der Chef der Kraftwerke Oberhasli (KWO) Daniel Fischlin. Dadurch hätte sich das Speichervolumen des Stausees auf 170 Millionen Kubikmeter vergrössert. Zusätzlicher Strom für knapp 50'000 Haushalte. Doch daraus wird vorläufig nichts.
Das Bundesgericht hatte 2020 eine Beschwerde der beiden Naturschutzorganisationen Aqua Viva und der Schweizerischen Greina-Stiftung gutgeheissen. Nun muss der Berner Regierungsrat das Projekt neu beurteilen – und entscheiden, ob ökologische oder ökonomische Interessen höher zu gewichten sind.
KWO-Chef Fischlin gilt bei den Umweltverbänden eigentlich als besonnener Verhandlungspartner, wenn es darum geht, Landschaftsschutz und Stromproduktion unter einen Hut zu bringen. Doch seine Geduld ist strapaziert; ein weiteres wichtiges Projekt der KWO bei Gadmen BE ist ebenfalls blockiert.
Winterstrom für 42'000 Haushalte
In den vergangenen Jahren hat sich der Triftgletscher oberhalb des Dorfes immer mehr zurückgezogen, geblieben ist ein See. Hier planen die Kraftwerke Oberhasli bei einem Felsriegel eine 167 Meter hohe Staumauer und einen Speichersee mit einem Volumen von 85 Millionen Kubikmetern. Winterstrom für 42'000 Haushalte. Widerstand kommt einmal mehr von den Gewässerschützern Aqua Viva und der regionalen Gruppe Grimselverein. Sie haben beim Kanton Bern Einsprache erhoben. Das nationale Interesse, die einmalige Hochgebirgslandschaft zu schützen, sei höher zu gewichten als die Energieproduktion, argumentieren die Verbände.
Fischlin moniert: «Einzelne Beschwerdeführer und die langen Bewilligungs- und Planungsverfahren verzögern wichtige Speicherprojekte und gefährden damit die Versorgungssicherheit. Das können wir uns nicht mehr leisten.» Im Verhältnis sei der Eingriff minimal.
Das sehen sogar Pro Natura, WWF oder der Berner Fischereiverband so. Die Naturschützer wurden von Anfang an in die Planung einbezogen und kamen zum Schluss, dass Beeinträchtigungen der Landschaft vertretbar seien und durch die BKW, die Muttergesellschaft der KWO, ausreichend kompensiert würden.
Fischlin ist überzeugt: «Wir können neue Kraftwerke in Einklang mit dem Landschaftsschutz bauen.» Dafür brauche es Konzessionen – von beiden Seiten.
Landschaftsschutz Schweiz erteilte Absage
Tatsächlich unterstützen die meisten Umweltverbände den Ausbau der Wasserkraft. Energieministerin Simonetta Sommaruga hatte den Naturschützern von WWF und Pro Natura nach einem runden Tisch vergangenes Jahr das Versprechen abgerungen, 15 gemeinsam ausgewählte Stauseeprojekte künftig nicht zu bekämpfen. Doch nicht alle haben die Erklärung unterschrieben.
So zum Beispiel die einflussreiche Stiftung Landschaftsschutz Schweiz. Gerade dem grössten Projekt auf Sommarugas Liste, dem geplanten Speichersee am Walliser Gornergletscher, erteilte der Umweltverband bislang eine Absage.
Nun stösst der Geschäftsführer Raimund Rodewald die Tür wieder einen Spalt auf. «Wenn wir zum Schluss kommen, dass das Projekt bewilligungsfähig ist, werden wir uns nicht mehr dagegen wehren.» Man befinde sich derzeit in Gesprächen mit dem für das Projekt verantwortlichen Stromkonzern Alpiq.
Nichts einzuwenden hat die Stiftung gegen die Erhöhung der Spitallamm-Staumauer und dem Trift-Projekt. Rodewald spricht angesichts der Energiekrise von einem Umdenken bei den Umweltorganisationen. Er sagt: «Die Schweiz befindet sich in einer schwierigen Lage. Ein allfälliger Stromengpass würde unser Land hart treffen, deshalb sind wir zu Konzessionen bereit.»
Die «ewigen Neinsager»
Dass Organisationen wie Aqua Viva und kleine Verbände bei fast allen Projekten vor Gericht ziehen, irritiert den Landschaftsschützer. «Die Zeiten haben sich geändert. Wir müssen Nutzen und Schutz neu denken», sagt Rodewald. Die überwiegende Mehrheit der Landschaft- und Umweltschutzverbände trage die Energiestrategie 2050 des Bundesrats inklusive Ausbau der Wasserkraft ja ohnehin mit.
Weil regionale Verbände bei Wasserkraftprojekten (fast immer) ausscheren, kommt es vermehrt zu Misstönen unter den Naturschützern. Hinter vorgehaltener Hand kriegen gerade die Gewässerschützer von Aqua Viva und kleinere Organisationen ordentlich Fett weg. Von «ideologischen Verhinderern», «Starrköpfen» und «den ewigen Neinsagern» ist selbst in der Branche die Rede.
Dagegen wehrt sich Aqua Viva: «Wir waren nicht eingeladen zum runden Tisch Wasserkraft und konnten der Einigung somit weder zustimmen noch widersprechen», sagt Sprecher Tobias Herbst. Für Aqua Viva gehe es um den Erhalt der letzten natürlichen Flüsse und Bäche.
«Jedes neue Kraftwerk belastet die Natur unverhältnismässig stark», sagt Herbst kompromisslos und verweist auf das brachliegende Potenzial der Solarenergie, die weitaus schonender realisiert werden könnte.
Doch der Zubau mit Fotovoltaikanlagen kommt nur schleppend voran. Grund: viel Bürokratie, konfuse Tarifsysteme – und Einsprachen von Umweltverbänden. Bis sich das ändert, bleibt die Wasserkraft mit einem Anteil von fast 60 Prozent an der Stromproduktion die wichtigsten Energielieferantin im Winter.