Afghaninnen, die vor dem Taliban-Regime fliehen, erhalten in der Schweiz seit Juli den Flüchtlingsstatus. Diese Praxisänderung des Staatssekretariats für Migration (SEM) machte kürzlich die «Weltwoche» publik – und löste damit in der FDP Empörung aus.
Afghaninnen aus Prinzip aufzunehmen, fördere die «illegale Sekundärmigration» und schaffe Probleme beim Familiennachzug, meinen die Liberalen. Ihre Forderung an das SEM: die Praxisänderung rückgängig machen. Sonst riskiere die Schweiz, «zum bevorzugten Zielland in Europa» zu werden.
Allerdings hat das SEM nicht im Alleingang entschieden, Afghaninnen als Flüchtlinge zu behandeln, sondern im Einklang mit den Empfehlungen der europäischen Asylagentur: Schweden oder Dänemark handhaben das schon länger so, auch Deutschland hat seine Praxis «weitgehend» den Empfehlungen der EU-Asylagentur angepasst, wie ein Sprecher mitteilt. Österreich hingegen behält das bisherige Flüchtlingsregime bei.
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In der Realität ändert die neue Praxis wenig. Schon bisher wurde Afghaninnen hierzulande fast immer Asyl oder wenigstens die vorläufige Aufnahme gewährt. Rückführungen nach Afghanistan aus der Schweiz erfolgten seit der Machtübernahme der Taliban ohnehin nicht mehr.
Beim SEM erwartet man, dass viele vorläufig aufgenommene Afghaninnen und ihre Familienangehörigen «ein erneutes Asylgesuch (Mehrfachgesuch) stellen werden». Dies könnte zur Folge haben, dass die Zahl afghanischer Asylbewerbungen in den kommenden Monaten stärker ansteigt als üblich – «ohne dass effektiv mehr Personen in die Schweiz kommen».
Keine Sozialhilfe bei Nachzug
Schon jetzt weisen Hilfswerke die Betroffenen darauf hin, dass sie mit dem Flüchtlingsstatus besser fahren als mit der vorläufigen Aufnahme, denn für vorläufig Aufgenommene ist der Familiennachzug strikter geregelt; unter anderem dürfen sie, wenn sie Angehörige ins Land holen möchten, keine Sozialhilfe beziehen.
Zudem dreht sich die derzeitige Debatte um relativ wenige Fälle. Seit August 2021 haben rund 2000 Afghaninnen ein Asylgesuch gestellt. Auch der Familiennachzug hält sich in Grenzen. Laut Zahlen des SEM kamen in den vergangenen zwölf Monaten lediglich 188 Afghaninnen allein in die Schweiz – und nur sechs Männer gelangten durch Familiennachzug zu ihren afghanischen Frauen.
Dennoch bleibt die Grundsatzfrage: Was tun, wenn die Hälfte der Bevölkerung eines Landes von 40 Millionen (prinzipiell) ein Anrecht auf Schutz hat? Und weshalb gilt der Flüchtlingsstatus für Afghaninnen, nicht aber – beispielsweise – für Iranerinnen?
Derzeit hat weder die Schweiz noch die EU darauf eine Antwort.