«Ich fühle mich tot»
Das erschütternde Tagebuch einer jungen Afghanin

Fariba berichtet, wie sie die zweite Woche nach der Machtübernahme der Taliban in der afghanischen Hauptstadt erlebt.
Publiziert: 29.08.2021 um 00:03 Uhr
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Aktualisiert: 29.08.2021 um 08:27 Uhr
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Seit dem Einmarsch der Taliban in Kabul führt Fariba für SonntagsBlick ein Tagebuch.

Fariba* ist Krankenpflegerin in Kabul. Seit dem Einmarsch der Taliban in Kabul führt die 29-Jährige für SonntagsBlick ein Tagebuch. Vor einer Woche publizierten wir die ersten fünf Einträge. In der heutigen Ausgabe publizieren wir die Fortsetzung. Zeilen der Verzweiflung und der Trauer.

Sonntag, 22. August

Ich habe geträumt, dass mich die Taliban wegen meiner Bekleidung auspeitschen wollen. Doch eine grosse Menge Frauen hat sich versammelt, um mich zu beschützen. Der Taliban-Soldat schreit: «Geh weg!» Ich laufe, so schnell ich kann, nach Hause. Diese Albträume lassen mich nicht mehr in Ruhe.

Auf dem Weg zur Arbeit starren mich die Männer an der Bushaltestelle an. Zu meiner Verwunderung steigt auch eine andere Frau in den Bus. Bei einem Stopp steigt ein Taliban-Soldat zu, ich bekomme grosse Angst und richte mein Kopftuch, damit keine Haare rausschauen. Der Soldat geht zum Buschauffeur. Gott sei Dank, will er nichts von mir. Er erkundigt sich nach dem Ticketpreis. «Zehn Afghani», antwortet der Buschauffeur, worauf der Soldat schreit: «Wieso verlangst du nicht fünf?» Der Benzinpreis sei gestiegen, entgegnet der Fahrer. Nach langer Diskussion lässt der Taleb uns weiterfahren.

Bei der Arbeit angekommen, pflege ich Patienten, bis der Spitalchef alle in sein Büro zitiert. Er teilt uns mit, dass unser Leiter das Land verlassen hat. Weil wir Angestellte eines Spitals sind, das französische Organisationen finanzieren und verwalten, bangen wir um unser Leben und fragen, ob es einen Weg gibt, dass auch wir flüchten können. «Wenn es einen Ausweg gäbe, wäre ich selbst schon geflüchtet. Geht weiterarbeiten!», antwortet unser Chef.

Wir alle sorgen uns um unsere Zukunft unter dem Regime der Taliban. Alles ist ungewiss und unsicher.
Ich fühle mich tot. Ich darf keine farbigen Kleider mehr tragen und mich nicht mehr schminken, nicht einmal meine Lippen. Oh Allah, ich wünsche mir, alles wäre nur ein Albtraum.

Montag, 23. August

Heute habe ich frei. Normalerweise unternehme ich viel mit Freunden und Familie. Doch jetzt muss ich zu Hause bleiben. Obwohl ich frei bin, fühle mich in meiner Stadt wie eine Gefangene. Wie kann das Taliban-Regime regieren? Sie haben nur Krieg im Kopf und wissen nicht, wie man ein Land führt. Sie bringen nur Unruhe, Angst und Schrecken.

Dienstag, 24. August

Ich versuche, mich zu beruhigen und ein normales Leben zu führen. Aber ich komme mit den neuen Regeln nicht klar – beispielsweise dem Tragen einer schwarzen Vollkörperbedeckung. Alles ist geschlossen: Universitäten, Banken, Ministerien, Behörden. Und die Strasse ist voller Taliban-Soldaten. Ihre Präsenz und ihr Aussehen versetzen mich in Angst und geben mir ein Gefühl der Ohnmacht.

Bei der Arbeit haben wir ein Skype-Meeting mit unseren französischen Unterstützern. Der Sitzungsraum ist überfüllt. Ich kriege fast keine Luft, doch verfolge ich alles hoffnungsvoll. Bei der Fragerunde will eine mutige Frau wissen, wieso Frankreich uns Angestellte hier nicht rausholt, wie andere Länder es tun. Wir seien in Sicherheit, lautet die Antwort. «Warum ist dann unser Leiter gegangen?», hakt die Frau nach. Eine zweite Gesprächspartnerin sagt, die Sicherheit des Spitals sei durch andere Organisationen garantiert. Eine dritte meint, dass sie nicht vepflichtet seien, unsere Sicherheit zu gewährleisten. Nach dieser Sitzung weinten viele. Ich habe meine Tränen unterdrückt und Allah um Hilfe gebeten, dass ich irgendeinen Weg finde, um zu flüchten. Jetzt, wo ich meine Gedanken niederschreibe, kommen mir die Tränen. Ich bin enttäuscht.

Mittwoch, 25. August

Meine Hoffnung, Afghanistan verlassen zu können, habe ich aufgegeben. Ich habe vielen Botschaften E-Mails geschickt, aber keine Antwort erhalten. Die USA haben angekündigt, dass sie die Sicherheit am Kabuler Flughafen mit ihren Soldaten nur bis 31. August gewährleisten. Danach beenden sie ihren Einsatz. Bis dahin habe ich nur noch sechs Tage. Oh Allah, kann ich danach weiterleben? Oder richten mich die Taliban wegen meiner Arbeitsstelle bei einem europäischen Arbeitgeber hin?

Donnerstag, 26. August

Die Taliban wollen, dass Frauen bis auf Weiteres zu Hause bleiben, und haben Mädchenschulen und Universitäten geschlossen. Ich bin froh, dass ich im Gesundheitswesen tätig bin und zur Arbeit gehen kann – wenn auch nur mit Bedeckung. Nur, wie lange noch? Was passiert, wenn plötzlich alle Frauen zu Hause bleiben müssen und die Taliban mir keine Arbeitserlaubnis mehr erteilen? Muss ich dann mein ganzes Leben zu Hause verbringen? Die Taliban regieren unser Land jetzt seit eineinhalb Wochen. In dieser kurzen Zeit habe ich alle Hoffnung verloren. Ich habe keine Motivation mehr, mein Leben fortzuführen. Vor der Zeit der Taliban habe ich angefangen, Deutsch zu lernen. Ich habe ein Masterstudium mit Schwerpunkt Krankenpflege begonnen – und ich habe mich verliebt. Jetzt kann ich nicht mehr zur Uni und mein Verlobter sagt, in dieser schwierigen und unsicheren Zeit könnten wir kein gemeinsames Leben beginnen. Er will mit seinen Ersparnissen illegal flüchten. Mein Herz ist gebrochen. All meine Träume sind weg.

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Freitag, 27. August

Der Islamische Staat hat den Kabuler Flughafen attackiert. Die Bilder in den Nachrichten, auf denen Menschen in ihrem Blut liegen, brechen mein Herz. Ich bin unglaublich müde – physisch und psychisch. Ich kann nicht mehr schlafen. Wenn ich meine Augen schliesse, sehe ich das graue, bärtige, wütende Gesicht eines Taliban-Kriegers vor mir. Ich sehe keinen Ausweg mehr.

Samstag, 28. August

Je näher der 31. August kommt, desto mehr befürchte ich, dass die Taliban nach dem Abzug der amerikanischen Truppen den Koran noch tyrannischer auslegen. Ich liebe mein Land. Aber jetzt, unter diesem schrecklichen Regime, wo ich die meisten meiner Träume begraben muss, bete ich nur noch: Allah, öffne mir einen Weg, damit ich hier rauskann! Und beschütze mich und meine Landsleute, dass wir nicht noch mehr verletzt werden.

* SonntagsBlick änderte den Namen, um Fariba zu schützen.

«Die Leute sterben lieber, als hier zu bleiben»
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