Maryam (21) hoffte auf die Schweiz. Und wurde bitter enttäuscht. Die junge Afghanin arbeitete für einen TV-Sender in Kabul, als schwer bewaffnete Taliban im Sommer 2021 die Hauptstadt eroberten.
Maryam widersetzte sich. Sie organisierte feministische Proteste gegen die neuen Machthaber, war eine der ersten Frauen, die in den Strassen Kabuls demonstrierten. Und sie arbeitete weiter. In einem Interview fragte die Journalistin einen Taliban-Führer: «Sind die Taliban Lügner?»
Drohungen per Whatsapp
Schon bald schickten die Gotteskrieger Drohungen per Whatsapp. «Sie wollten mir und meiner Familie etwas antun.» Maryam flüchtete in ein Nachbarland und stellte einen Antrag auf ein humanitäres Visum für die Schweiz.
Ein solches kann der Bund an Personen vergeben, die im Herkunftsstaat «unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben gefährdet» sind. Die Afghanin schickte Beweise für die Drohungen – vergeblich: Das Staatssekretariat für Migration (SEM) verweigerte ihr das Visum.
Die Gefährdung sei nicht ausreichend belegt. Und: Sie habe keinen «aktuellen, engen Bezug zur Schweiz». Maryam fragt sich: «Muss ich denn mit abgeschlagenem Kopf kommen?»
Tausende Betroffene
So wie der jungen Journalistin geht es in Afghanistan Tausenden. Verfolgt und verzweifelt wenden sie sich an die Schweiz. Seit der Machtübernahme der Taliban ist die Zahl der Gesuche für humanitäre Visa explodiert. Im ganzen Jahr 2020 registrierte Bern 41 Anträge von Afghanen, 2022 waren es allein bis Ende November bereits 1683 (Grafik).
Die Reaktion der Schweiz blieb gleich: Sie blockt die allermeisten Anträge ab. 2022 hiess das SEM nur 98 Gesuche gut – einen Bruchteil. Und das, obwohl sich die Menschenrechtslage in Afghanistan mit jedem Tag weiter verschlechtert. Dass eine enge Beziehung zur Schweiz als Voraussetzung gilt – hier etwa eine Familie zu haben –, führt dazu, dass die Chancen vieler Hilfesuchenden gegen null gehen.
«Die aktuelle Praxis ist äusserst restriktiv», sagt Eliane Engeler von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Die Kriterien für ein Visum seien praktisch nicht zu erfüllen. Dazu kommt, dass Betroffene ihren Antrag nur persönlich bei einer Schweizer Vertretung einreichen können. Die gibt es in Afghanistan aber gar nicht mehr. Und eine legale Ausreise ist kaum möglich.
Flüchtlingshilfe fordert Ausweitung der Kriterien
Die Folgen liegen laut Engeler auf der Hand: «Die Betroffenen müssen entweder unter lebensbedrohlichen und prekären Bedingungen ausharren oder sich auf lebensgefährliche Fluchtwege begeben.»
Deshalb fordert die Flüchtlingshilfe, die allzu eng gefassten Kriterien auszuweiten. Insbesondere der sogenannte Schweizbezug müsse abgeschafft werden. Engeler: «Eine Praxisänderung ist dringend nötig.»
Dazu jedoch brauche es zuerst den politischen Willen.
Entscheidet das SEM zu streng?
Weil dieser fehlt, hat das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) seinen Beratungsdienst für humanitäre Visa bereits Ende 2021 eingestellt. Denn trotz Tausender von Anfragen, die das SRK nach der Machtübernahme der Taliban erhalten hatte, wurde kaum ein humanitäres Visum gewährt.
Lässt der Bund die von den neuen Machthabern verfolgten Afghanen im Stich? SEM-Sprecher Samuel Wyss: «Wir entscheiden weder grosszügig noch streng – stattdessen wendet das SEM die einschlägigen rechtlichen Bestimmungen an.» Tatsächlich hat das Bundesverwaltungsgericht die Praxis der Schweiz bestätigt.
Wyss verweist darauf, dass für den Bund Hilfe vor Ort im Vordergrund stehe. Darüber hinaus habe die Schweiz seit der Machtübernahme der Taliban im Rahmen des Resettlement-Programms 392 afghanische Flüchtlinge aufgenommen. Deutschland, Frankreich und Italien engagierten sich allerdings deutlich stärker.
Maryam hält sich noch immer in einem Nachbarland Afghanistans auf. Wo, will sie nicht verraten, denn sie hat Angst, dass die Taliban sie finden. «Ich bin müde und frustriert», sagt sie zu SonntagsBlick. «Die Schweiz lässt uns im Stich.» Ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft schwinde mit jedem Tag ein wenig mehr.