Geburt im Asylheim
«Niemand hat uns geholfen»

Ohne Hebamme, ohne Ärztin: Marzia Temuri bringt ihre Tochter in einer Notunterkunft zur Welt. Die Kritik an den Umständen, unter denen Kinder dort leben, wächst.
Publiziert: 05.12.2021 um 12:49 Uhr
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Aktualisiert: 05.12.2021 um 14:44 Uhr
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Soleiman Safi und Marzia Temuri fürchten, mit ihren Kindern Mohammad (l.) und Asma (r.) in ein griechisches Flüchtlingscamp geschickt zu werden.
Foto: Thomas Meier
Camilla Alabor

An der Wand wuchert der Schimmel, die Scheiben sind beschlagen, direkt vor dem Haus rauschen Autos vorbei. Hier in diesem Zimmer, auf einem braunen Teppich, brachte Marzia Temuri (20) vor vier Monaten ihr Kind zur Welt.

Ohne Hebamme, ohne Ärztin.
Vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes.

Marzia Temuri und Soleiman Safi (33) kommen aus Afghanistan. Seit August 2021 leben sie in der Notunterkunft in Hinteregg ZH, einem Zentrum für abgewiesene Asylsuchende. Als die hochschwangere Temuri und ihr Mann Ende Juli ins Spital gehen, schickt man sie nach einer Untersuchung wieder nach Hause: Die Geburt stehe nicht unmittelbar bevor.

Nabelschnur selbst durchgeschnitten

Noch in derselben Nacht setzen die Wehen ein.
Mohammad, drei Jahre alt, erlebt die Geburt, die Schreie, die Panik seiner Mutter aus nächster Nähe mit. Sein Schlafzimmer ist auch das der Eltern. Und die sind mit der Situation überfordert. Ein Betreuer, der die Ambulanz aufbieten könnte, ist nicht vor Ort. Als Baby Asma wenig später auf der Welt ist, muss der Vater, ein Metallbauer, die Nabelschnur durchschneiden.

«Niemand hat uns geholfen», sagt Soleiman Safi, als er sich an jene Nacht zurückerinnert. «Niemand.» Die Familie lebt noch immer in der Notunterkunft, nun zu viert in einem Zimmer. Der kleine Mohammad spricht kaum noch, seit er Zeuge der Geburt wurde; Mutter Marzia bekämpft ihre Schlafstörungen mit Tabletten.

Abgewiesene Asylbewerber wie Safi und seine Familie können jederzeit ausgeschafft werden. Weigern sie sich – oder ist eine Ausschaffung nicht möglich –, erhalten sie Nothilfe, acht Franken am Tag pro Person und ein Dach über dem Kopf. Der Gedanke dahinter: Das Leben in der Schweiz soll so unbequem für sie werden, dass eine Ausreise die bessere Option darstellt.

Wahl zwischen Pest und Cholera

Zwar soll die Nothilfe nur als Überbrückungslösung dienen, doch das ist sie nicht immer. Wie ein aktueller Bericht des Staatssekretariats für Migration zeigt, machen Familien rund ein Viertel aller abgewiesenen Asylsuchenden aus.Über zwei Drittel leben schon länger als ein Jahr davon, weil ihr Herkunftsland eine Rückkehr ablehnt oder weil sie – wie die Familie aus dem kleinen Zimmer in Hinteregg – Angst vor einer Rückschaffung in überfüllte griechische Flüchtlingscamps haben.

Das Resultat: Viele Kinder und Jugendliche leben über Monate, wenn nicht Jahre, in Notunterkünften. Zu viert, zu fünft, zu sechst in einem Raum mit den Eltern. An einem Ort, der oftmals sehr abgelegen ist. Und nicht dafür gemacht, Kinder aufzuziehen.

Den vielen Kindern in Hinteregg stehen eine einzige eingezäunte Schaukel zur Verfügung und ein kleines Holzgerüst. Wenn es kalt ist, spielen sie in den Gängen, hibbelig und überdreht, jedes in seiner Sprache. Kommt ein Fremder zu Besuch, klammern sie sich an dessen Beine wie an ein Stück Hoffnung.

«Unserem Sohn geht es hier nicht gut », sagt Vater Safi. «Er hat keinen Kontakt zu Kindern ausserhalb des Zentrums und lernt schlechtes Verhalten, ist gestresst.»

Segregation und Schikanen

Viele Eltern im Zentrum machen sich Sorgen ob der Umstände, unter denen die Kleinen aufwachsen. «In Adliswil, wo wir vorher untergebracht waren, gingen unsere Kinder in die normale Schule», sagt Ahmad Badawi* (30). In Hinteregg werden die Kinder aus der Notunterkunft separat unterrichtet, alle Jahrgänge gemischt. «Hier gibt es keine Hausaufgaben, keinen Sportunterricht», sagt Badawi, «und Kontakte zu Schweizer Kindern haben sie auch nicht.»

Zur angespannten Situation in den Notunterkünften tragen die Polizeikontrollen bei. «Kürzlich traten die Polizisten um 6 Uhr morgens in unser Zimmer», erzählt Badawi. «Sie verlangten meinen Ausweis, leuchteten mit der Taschenlampe unter das Bett meiner Tochter und gingen wieder.» Kinder- und Jugendtherapeutin Sandra Rumpel (53), die für den Verein Family Help auch Kinder von Familien in Notunterkünften betreut, spricht von «unhaltbaren Zuständen».

Durch wiederholte Polizeieinsätze lernten die Kinder, dass ihr Vater, ihre Mutter jederzeit abgeholt und verhaftet werden könne. «Die Vorstellung, die Bezugsperson zu verlieren, ist für das Kind extrem schlimm», sagt Rumpel. «Das Nervensystem ist immer im Alarmzustand.» Angst und Gewalterfahrung seien traumatisierend.

Migrationskommissions-Präsident: «Staat nimmt Kinder in Sippenhaft»

Herr Leimgruber, mit Blick auf die Situation von Familien abgewiesener Asylbewerber in Notunterkünften sagten Sie kürzlich: «Wir produzieren kaputte Kinder.» Wie meinen Sie das?
Walter Leimgruber: Die Notunterkünfte sind keine kindgerechte Umgebung. Oft wohnt die ganze Familie in einem einzigen Raum. Zudem leben in vielen Unterkünften Personen, die psychische, Alkohol- oder Drogenprobleme haben. Manchmal kommt die Polizei mitten in der Nacht vorbei, um Leute abzuholen. Das führt bei den Kindern zu Traumata und Schlafstörungen. Sie haben panische Angst, dass ihre Eltern als Nächste dran sind. Mit schlimmen Folgen.

Was bedeutet das konkret?
Ein Grossteil der Kinder in Notunterkünften wird psychisch krank.

Sie kritisieren auch, dass viele dieser Kinder nicht in die normale Schule gehen dürfen. Warum ist das ein Problem?
An vielen Standorten unterrichtet eine Lehrperson direkt in der Notunterkunft. Das führt dazu, dass die Kinder das Zentrum kaum verlassen und kein gesundes soziales Umfeld aufbauen können. Wenn es aus der angespannten Situation kein Entkommen gibt, ist das enorm belastend.

Sind die Eltern denn nicht mitverantwortlich für die Situation ihrer Kinder? Sie hätten es in der Hand, den prekären Zustand zu beenden, indem sie die Schweiz verlassen ...
Es gibt natürlich Familien, die ausreisen könnten. Aber manche haben diese Möglichkeit gar nicht. Zum Beispiel, weil ihr Staat ihnen keine Papiere ausstellt. Den Tibetern etwa wirft der Bund vor, dass sie ihre wahre Identität verschleiern und nicht von China, sondern nach einem längeren Aufenthalt in Indien in die Schweiz geflüchtet seien. Das ist möglich, wir wissen es nicht. Tatsache ist jedenfalls, dass diese Personen nicht nach China gehen können – und Indien sie nicht als Rückkehrer akzeptiert. Weil eine politische Lösung fehlt, leben sie jahrelang in einem Schwebezustand. Damit ist niemandem geholfen.

Immerhin haben abgewiesene Asylbewerber in der Schweiz die Möglichkeit, nach fünf Jahren Aufenthalt ein Härtefallgesuch einzureichen.
Aber dafür müssen sie Kriterien erfüllen, die gerade für Familien häufig unerfüllbar sind. So wird verlangt, dass sie gut Deutsch sprechen und gut integriert sind. Dabei hat der Staat in den Jahren davor alles unternommen, um sicherzustellen, dass sich diese Menschen gerade nicht integrieren: Sie dürfen weder arbeiten noch Deutschkurse besuchen oder eine Ausbildung machen. Eine völlig absurde Regelung. Wichtig ist mir aber noch ein anderer Punkt.

Und zwar?
Wir müssen uns grundsätzlich die Frage stellen: Hat der Staat das Recht, Kinder zu bestrafen? Wir werfen Kinder auch nicht ins Gefängnis, wenn ihre Eltern kriminell sind. Vielmehr sorgt man in solchen Situationen dafür, dass sich jemand um sie kümmert. Bei Kindern abgewiesener Asylsuchender nimmt der Staat seine Verantwortung nicht wahr. Wie die Schweiz mit ihnen umgeht, verstösst meiner Meinung nach gegen die Kinderrechte.

Wie lange leben Kinder in solchen Notunterkünften?
Das ist sehr unterschiedlich, teils sind es fünf oder gar noch mehr Jahre. Wenn ein Kind so lange in einem solchen Zentrum leben muss, hat man ihm nicht fünf Jahre weggenommen, sondern sein ganzes Leben zerstört. Die Kindheit ist eine wichtige Entwicklungsphase, die sich nicht einfach nachholen lässt.

Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern?
Einzelne Kantone zeigen, dass es auch anders geht: In Schaffhausen leben Familien abgewiesener Asylbewerber in Wohnungen statt in Notunterkünften. Um der Sache auf den Grund zu gehen, hat die Migrationskommission einen Bericht in Auftrag gegeben, der die Situation von Kindern abgewiesener Asylbewerber unter die Lupe nimmt. Er wird nächstes Jahr vorliegen. Auf dieser Basis wird die Politik hoffentlich kindgerechte Lösungen suchen.

Walter Leimgruber (62), Professor für Kulturwissenschaft an der Universität Basel, ist seit 2012 Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission.

Walter Leimgruber, Präsident der Migrationskommission, findet das inakzeptabel. Ein grosser Teil der Kinder in Notunterkünften werde psychisch krank, sagt er.
Keystone

Herr Leimgruber, mit Blick auf die Situation von Familien abgewiesener Asylbewerber in Notunterkünften sagten Sie kürzlich: «Wir produzieren kaputte Kinder.» Wie meinen Sie das?
Walter Leimgruber: Die Notunterkünfte sind keine kindgerechte Umgebung. Oft wohnt die ganze Familie in einem einzigen Raum. Zudem leben in vielen Unterkünften Personen, die psychische, Alkohol- oder Drogenprobleme haben. Manchmal kommt die Polizei mitten in der Nacht vorbei, um Leute abzuholen. Das führt bei den Kindern zu Traumata und Schlafstörungen. Sie haben panische Angst, dass ihre Eltern als Nächste dran sind. Mit schlimmen Folgen.

Was bedeutet das konkret?
Ein Grossteil der Kinder in Notunterkünften wird psychisch krank.

Sie kritisieren auch, dass viele dieser Kinder nicht in die normale Schule gehen dürfen. Warum ist das ein Problem?
An vielen Standorten unterrichtet eine Lehrperson direkt in der Notunterkunft. Das führt dazu, dass die Kinder das Zentrum kaum verlassen und kein gesundes soziales Umfeld aufbauen können. Wenn es aus der angespannten Situation kein Entkommen gibt, ist das enorm belastend.

Sind die Eltern denn nicht mitverantwortlich für die Situation ihrer Kinder? Sie hätten es in der Hand, den prekären Zustand zu beenden, indem sie die Schweiz verlassen ...
Es gibt natürlich Familien, die ausreisen könnten. Aber manche haben diese Möglichkeit gar nicht. Zum Beispiel, weil ihr Staat ihnen keine Papiere ausstellt. Den Tibetern etwa wirft der Bund vor, dass sie ihre wahre Identität verschleiern und nicht von China, sondern nach einem längeren Aufenthalt in Indien in die Schweiz geflüchtet seien. Das ist möglich, wir wissen es nicht. Tatsache ist jedenfalls, dass diese Personen nicht nach China gehen können – und Indien sie nicht als Rückkehrer akzeptiert. Weil eine politische Lösung fehlt, leben sie jahrelang in einem Schwebezustand. Damit ist niemandem geholfen.

Immerhin haben abgewiesene Asylbewerber in der Schweiz die Möglichkeit, nach fünf Jahren Aufenthalt ein Härtefallgesuch einzureichen.
Aber dafür müssen sie Kriterien erfüllen, die gerade für Familien häufig unerfüllbar sind. So wird verlangt, dass sie gut Deutsch sprechen und gut integriert sind. Dabei hat der Staat in den Jahren davor alles unternommen, um sicherzustellen, dass sich diese Menschen gerade nicht integrieren: Sie dürfen weder arbeiten noch Deutschkurse besuchen oder eine Ausbildung machen. Eine völlig absurde Regelung. Wichtig ist mir aber noch ein anderer Punkt.

Und zwar?
Wir müssen uns grundsätzlich die Frage stellen: Hat der Staat das Recht, Kinder zu bestrafen? Wir werfen Kinder auch nicht ins Gefängnis, wenn ihre Eltern kriminell sind. Vielmehr sorgt man in solchen Situationen dafür, dass sich jemand um sie kümmert. Bei Kindern abgewiesener Asylsuchender nimmt der Staat seine Verantwortung nicht wahr. Wie die Schweiz mit ihnen umgeht, verstösst meiner Meinung nach gegen die Kinderrechte.

Wie lange leben Kinder in solchen Notunterkünften?
Das ist sehr unterschiedlich, teils sind es fünf oder gar noch mehr Jahre. Wenn ein Kind so lange in einem solchen Zentrum leben muss, hat man ihm nicht fünf Jahre weggenommen, sondern sein ganzes Leben zerstört. Die Kindheit ist eine wichtige Entwicklungsphase, die sich nicht einfach nachholen lässt.

Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern?
Einzelne Kantone zeigen, dass es auch anders geht: In Schaffhausen leben Familien abgewiesener Asylbewerber in Wohnungen statt in Notunterkünften. Um der Sache auf den Grund zu gehen, hat die Migrationskommission einen Bericht in Auftrag gegeben, der die Situation von Kindern abgewiesener Asylbewerber unter die Lupe nimmt. Er wird nächstes Jahr vorliegen. Auf dieser Basis wird die Politik hoffentlich kindgerechte Lösungen suchen.

Walter Leimgruber (62), Professor für Kulturwissenschaft an der Universität Basel, ist seit 2012 Präsident der Eidgenössischen Migrationskommission.

Absolute Perspektivlosigkeit

Fast noch schlimmer sei aber die Perspektivlosigkeit, so Rumpel weiter. «Die Eltern leben in permanenter Unsicherheit, wie lange sie noch bleiben können.» Der Stress der Eltern übertrage sich auf die Kleinen. Selbst Kinder, die keine Flucht erlebt hätten, seien «schon mit drei, vier Jahren psychisch krank».

Walter Leimgruber, Präsident der Migrationskommission, hält die Zustände in den Notunterkünften gar für illegal: «Hat der Staat das Recht, Kinder zu bestrafen, wenn ihre Eltern etwas angestellt haben?», fragt er.

Leimgruber sieht im Umgang der Schweiz mit den Kindern abgewiesener Asylbewerber einen Verstoss gegen die Kinderrechte. Die Migrationskommission hat darum beschlossen, die Zustände in den Notunterkünften untersuchen zu lassen. Der Bericht soll nächstes Jahr fertiggestellt werden.
Derweil hofft Soleiman Safi, die Notunterkunft mit seiner Familie bald verlassen zu dürfen. «Ich möchte meinen Kindern ein gutes Leben in der Schweiz bieten», sagt er.
Es dürfte bei der Hoffnung bleiben.

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