Sie sitzen in der Falle. Tausende harren seit Wochen im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen aus. Männer, Frauen und Kinder übernachteten tagelang in Schlafsäcken im Freien. Sie wollen nach Polen, in die EU. Doch es gibt kein Durchkommen.
Die Lage sei prekär, sagt Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz: «Viele Menschen aus dem Nahen Osten wurden mit falschen Versprechungen nach Belarus gelockt. Auf der Suche nach einem besseren Leben werden sie nun zum politischen Spielball.»
Das Grenzgebiet ist weitgehend abgeriegelt, die Lage dort kaum zu überblicken. SonntagsBlick versuchte tagelang, in sozialen Netzwerken mit Migranten dort Kontakt aufzunehmen. Über den Messenger-Dienst Telegram organisieren sie sich in Gruppen und informieren einander – über mögliche Routen, aktuelle Entwicklungen, über Hoffnungen und Ängste.
Diese Ängste sind allgegenwärtig. Viele Kontaktaufnahmen laufen ins Leere. Die Migranten sind misstrauisch. «Du bist ein Spion», antwortet jemand auf unsere Anfrage. Oder: «Ich werde nichts zur Situation sagen, Spion.»
Über ein Dutzend Tote
Erst nach Tagen gelingt die Kontaktaufnahme mit Ali W.*, einem Kurden. Seine Lage ist prekär. «Es ist kalt. Ich stecke fest», schreibt er knapp. Und dann: «Ich bin sehr, sehr hungrig. Ich warte darauf zu sterben.» Dann hört SonntagsBlick nichts mehr von ihm.
Die Beschreibungen lassen sich kaum überprüfen. Aber der Winter naht, die Not wächst. Mehr als ein Dutzend Menschen sind bereits gestorben – darunter ein einjähriger Junge aus Syrien. Und viele sind krank. Das berichtet auch Bachtyar M.*, ein weiterer Kurde, mit dem SonntagsBlick Kontakt aufnehmen kann. Noch im Oktober lebte er mit seiner Frau und vier Kindern im Nordirak. Im Sommer verkaufte er dort jeweils Eis, im Winter Suppen. «Aber in Kurdistan haben wir keine Zukunft mehr», sagt er spätabends am Telefon. Am 1. November flog er deshalb über Dubai nach Minsk. Fünf Tage später gelangte er nach Brest und an die polnische Grenze. 4000 Dollar habe die Reise gekostet. Doch dann kam er nicht weiter. M. schloss sich mit anderen zusammen, schlug sich nach Grodno im Norden durch, wo die Autobahn M6 zum polnischen Grenzübergang Kuznica führt. Aber auch dort: Endstation.
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«Ich vermisse meine Familie», sagt Bachtyar M. Aber er will seinen Kindern in Europa ein besseres Leben als im Irak ermöglichen. «Wir haben dort nur wenige Stunden am Tag Strom und Wasser.» Sein Ziel: Deutschland oder England. Sollte er es schaffen, soll die Familie nachkommen.
Zuhause droht die Ermordung
Zurück will M. nicht. Er wurde politisch verfolgt, weil er die kurdische Regionalregierung kritisierte. Man versuchte gar, ihn umzubringen. Er zeigt Fotos, wo er im Spital liegt, blutüberströmt und mit zwei tiefen Stichwunden im Unterleib. Im Herbst 2020 sei das gewesen, erzählt er.
Wer hinter dem Angriff steckt, weiss er nicht. Aber er hat überlebt. Und entschieden: «Ich muss mich und meine Familie aus dem Irak bringen.» Nun harrt er seit zwei Wochen südlich von Grodno aus. In der Nacht sinken die Temperaturen unter null. Manche hätten nicht einmal Schlafsäcke. Immerhin: Seit Freitag können die Migranten in einem Warenlager schlafen. Aber es ist heillos überfüllt. Und alle dort haben noch immer das gleiche Ziel: über die Grenze.
Auf Videos, die M. schickt, sind Hunderte entlang der mit Stacheldraht befestigten Grenze zu sehen. Darunter Kinder, auch jemand im Rollstuhl. Die belarussischen Streitkräfte hätten versucht, die Erwachsenen zu bewaffnen, damit sie die polnischen Grenzschutzbeamten attackieren. Berichte der letzten Tage belegen, dass es zu Auseinandersetzungen kam. Bachtyar M. widerspricht empört: «Es sind viele Familien und Kinder hier. Das würden wir nie tun.»
Lukaschenko will die EU erpressen
Gewalt heize die Situation weiter auf, meint Benno Zogg, Sicherheits- und Osteuropa-Experte an der ETH Zürich. «Der Frust ist sowieso schon gross, und die Lage ist in den letzten Wochen dramatisch eskaliert.» Dass Polen seine Grenzen öffnet, hält Zogg für unwahrscheinlich: «Das würde in der EU die Angst schüren, dass noch viel mehr Menschen durch Belarus nach Europa geschleust werden.»
Und Lukaschenko, dem Machthaber in Minsk, gehe es primär nicht darum, Migrationsströme auszulösen, sondern, so Zogg: «Er will die Europäische Union erpressen. Sein Denkfehler: Die EU wird kaum mit ihm verhandeln wollen.» Und doch: Brüssel mache keine gute Figur. Eine politische Strategie sucht Zogg vergeblich.
Alexandra Karle von Amnesty Schweiz sagt: «Die Situation ist das Resultat einer gescheiterten europäischen Flüchtlingspolitik. Wir schauen zu, wie Menschen an den Aussengrenzen Europas erfrieren oder verhungern. Und werfen unsere Werte dabei über Bord.»
Und Bachtyar M.? «Wir wissen, dass wir als Fremde hier nicht willkommen sind. Aber wir warten so lange, bis die EU die richtige Entscheidung trifft.»