Es sind Bilder des Scheiterns. Zitternd hocken Menschen in Zelten und unter Planen. Manche drängen sich an qualmende Lagerfeuer. Andere liegen apathisch in Decken eingehüllt auf dem gefrorenen Boden.
Um die 4000 Geflüchtete harren in den weissrussischen Wäldern aus. Gefangen am Grenzzaun zu Polen. Seit Tagen schon, und es wird immer kälter.
Seit Monaten lässt der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko Menschen aus der Türkei und dem Nahen Osten einfliegen. Dann werden sie an die EU-Aussengrenze getrieben.
Als Lukaschenko seine Visa an Flüchtlinge vergab und ihnen damit eine neue Route in den Westen öffnete, schaute die EU lange zu. Bis heute fand sie kein Mittel gegen diese niederträchtige Taktik.
Die EU sitzt in der Falle
Ausser Gewalt hat auch die polnische Regierung keine Antwort. 15'000 Soldaten sind aufmarschiert. Mit Stacheldraht, Wasserwerfer und Pfefferspray drängen sie die Geflüchteten zurück. Mindestens zehn Menschen sollen dort bisher gestorben sein. Die bisher letzte Meldung über ein Todesopfer kam gestern Samstag. Weder Ärzte noch Journalisten werden in die Sperrzone gelassen.
Dafür liefern die Regierungen ein verheerendes Bild. Nichts überfordert die EU so sehr wie einige Tausend Menschen an ihrer Aussengrenze. Überlässt sie die Schutzsuchenden sich selbst oder öffnet sie ihre Tore: Die Union muss sich entscheiden.
So oder so ist die EU in die Falle getappt. Sie wird als heuchlerische Institution vorgeführt, die Menschlichkeit predigt, aber zuschaut, wie Flüchtlinge an ihren Grenzen zurückgeprügelt werden.
Russlands Präsident Putin und sein Intimus Alexander Lukaschenko in Belarus dürfen mit Wonne auf ein Europa blicken, das sich nicht mehr an die eigenen Werte hält, hilflos agiert und erpressbar geworden ist.
Migrationsforscher macht Vergleiche mit der AfD
Der Migrationsforscher Gerald Knaus mahnte diese Woche eindrücklich im deutschen Fernsehen: «Was wir jetzt machen, ist die AfD-Politik, die wir 2015 nicht gemacht haben an der Grenze der Europäischen Union!» Dabei gilt Knaus als Architekt des Abkommens zur Reduzierung der Fluchtbewegung zwischen der Europäischen Union und der Türkei.
Er scheut auch vor harten Vergleichen nicht zurück: 2016 habe die AfD-Politikerin Beatrix von Storch gesagt: «Wer das Halt an unserer Grenze nicht akzeptiert, ist ein Angreifer. Gegen Angreifer müssen wir uns verteidigen, auch mit Waffen.» Genau dies, so Knaus’ Urteil, geschehe nun an der belarussischen Grenze.
Brüssel ist mit dem Ansturm der Hilflosen überfordert, weil das EU-Asylsystem nicht funktioniert. Die Szenen wären vermeidbar gewesen, zumal Lukaschenko nicht auf ein endloses Reservoir an Fluchtwilligen zurückgreifen kann und den Nachschub einfliegen muss.
Ein Zaun für Europas Zukunft?
Die grosse Frage der Migration bleibt ungelöst, Europas Einheit zerfällt wie ein Alka Seltzer im Wasser. Und der nächste Streit gärt schon. Polen will einen Grenzzaun – mehr als fünf Meter hoch und über 350 Millionen Euro teuer. Brüssel soll ihn mitfinanzieren. Zwölf EU-Staaten, auch Österreich und Ungarn, unterstützen das und schrieben schon vor Wochen an die EU-Kommission – Präsidentin Ursula von der Leyen (63) lehnte ab.
Doch neuerdings sieht EU-Ratspräsident Charles Michel (45) den Zaun als Wegmarke für Europas Zukunft: «Polnische und baltische Grenzen sind unsere Grenzen. Eine für alle und alle für einen», sagt er diese Woche.
Was Brüssel bei Trumps Plänen für eine stählerne Mauer zu Mexiko noch entsetzte, ist plötzlich kein Tabu mehr ...