Die Welthungerhilfe hat nachgezählt: 811 Millionen Menschen leiden an chronischer Unterernährung. Die Lage in den Ländern der Sahelzone, im Sudan und in Tschad, im Libanon und im Jemen, in Syrien und Afghanistan ist dramatisch.
Obwohl die betroffenen Regionen über den halben Erdball verteilt sind – die Auslöser von Hungersnöten sind stets die gleichen: lokale Kriege und Ernteausfälle durch den Klimawandel. Neu hinzugekommen sind stark gestiegene Lebensmittelpreise in Folge von Wladimir Putins Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine.
Wie immer leiden die Schwächsten am stärksten: Arme, Frauen und die Jüngsten. Im Jemen stehen 400 000 Kinder vor dem Hungertod, in der Sahelzone eine Dreiviertelmillion. Wie Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, schätzt, leiden weltweit über 50 Millionen Kinder an Auszehrung, der lebensbedrohlichsten Form von Unterernährung.
EU verhindert schnelle Getreideausfuhr
David Beasley (65), Exekutivdirektor des Uno-Welternährungsprogramms, lässt keinen Zweifel: «Es drohen Hungersnöte biblischen Ausmasses.»
Der Ukraine-Krieg tobt zwischen zwei Ländern, die einen Grossteil des weltweit gehandelten Getreides produzieren. Die ukrainischen Exporte, die normalerweise über die Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer in alle Welt verschifft werden, sind durch Minen und russischen Militärschiffe blockiert. Doch auch der Getreidetransport über die Grenzen der Europäischen Union gestaltet sich schwierig.
Der gebürtige Appenzeller Jakob Kern (61) war seit Ausbruch des Kriegs drei Monate lang Nothilfekoordinator des Welternährungsprogramms in der Ukraine. Nach seiner Einschätzung macht die EU mit ihren sehr strikten und komplizierten Einfuhrbestimmungen eine schnelle Ausfuhr des weltweit benötigten ukrainischen Getreides unmöglich.
In vielen Silos ist noch die Ernte vom Vorjahr
Kern war Augenzeuge: «An der Grenze von Lwiw nach Krakau zählte ich über 500 wartende Lastwagen, die Wartezeit beträgt drei Tage.» Eine katastrophale Treibstoffknappheit kommt hinzu. Die meisten Raffinerien und Erdöllager in der Ukraine wurden von Putins Truppen zerstört.
Jetzt ist dort der Winterweizen reif für die Ernte. Dabei lagert in vielen Silos noch die Ernte vom letzten Jahr. Viele Landwirte leiden darunter, dass ihre Silos und Traktoren zerstört wurden, viele Felder sind durch Landminen und Blindgänger unbegehbar. Oft fehlen auch schlicht die Landarbeiter, sie sind geflohen oder kämpfen gegen die Invasoren.
Der Klimawandel tut ein Übriges. Hitzewellen in Indien, Dürren und Überschwemmungen in der Sahelzone behindern den Lebensmittelanbau. Ernten bleiben aus, Böden erodieren. Das Bruttoinlandprodukt in den ärmsten Ländern der Welt dürfte durch klimabedingte Katastrophen jährlich um etwa drei Prozent zurückgehen, schätzen Experten.
Reiche Länder hoffen auf hohe Preise
Australien und Marokko erwarten Missernten. Kürzlich warnte das chinesische Landwirtschaftsministerium vor einer der «katastrophalsten Ernten in der Geschichte». Angeblich haben extrem starke Regenfälle vielerorts die Aussaat des Winterweizens verzögert. Peking bunkert jetzt Nahrungsmittel. Gemäss Informationen der US-Regierung hat China gegenwärtig 69 Prozent der weltweiten Getreidereserven eingelagert.
Andere Nationen tun es China gleich. Dabei lassen sich einzelne Regierungen keineswegs allein von der Sorge leiten, die Ernährung der eigenen Bevölkerung sicherzustellen. Laut Jakob Kern wollen sie in einer Reflexreaktion zudem von noch höheren Preisen profitieren, zum Leidwesen der ärmeren Länder.
Als Resultat der Verknappung gehen die Lebensmittelpreise durch die Decke. Wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Uno am Freitag mitteilte, stiegen die Preise für Weizen den vierten Monat in Folge. Nun liegen sie 56,2 Prozent über dem Niveau des Vorjahrs.
Das hat dramatische Folgen: Jeder zusätzliche Anstieg der Lebensmittelpreise um ein Prozent stürzt fast zehn Millionen Menschen mehr in die extreme Armut.
Zeit für internationale Hilfspakete
Die Lebensmittelpreise stellen auch das Welternährungsprogramm der Uno vor schier unlösbare Aufgaben. Wegen der Teuerung muss die Organisation pro Monat 70 Millionen Dollar mehr als letztes Jahr aufwenden, um die gleiche Menge an Lebensmitteln einzukaufen. Die Folge: Vier Millionen Menschen müssen auf die dringend benötigte Hilfe verzichten.
Jakob Kerns Forderung an die Schweizer Politik: Mehr Mittel für das Welternährungsprogramm! Mit einer finanziellen Beteiligung von 200 Millionen Franken könnte es die hohen Kosten für drei Monate ausgleichen. Es wäre eine dringend benötigte Hilfe.
Jürg Keim (54), Sprecher von Unicef Schweiz und Liechtenstein, sieht die reichen Nationen in der Pflicht, bereits eingegangene humanitäre Verpflichtungen einzuhalten und weiterhin an der Initiative «Nutrition for Growth» festzuhalten, Nahrung für das Wachstum. Die Mittel aus diesem Programm werden dort eingesetzt, wo sie am meisten gebraucht werden: bei der Behandlung schwer unterernährter Kinder unter zwei Jahren, aber auch für Sozialschutzmechanismen wie Geldtransfers.
Es ist höchste Zeit, staatliche wie internationale Hilfspakete zu schnüren und finanzielle Unterstützung zu gewähren – denn in jeder Minute, in der nicht mit vollem Einsatz geholfen wird, verhungern irgendwo auf der Welt viele der Schwächsten und Ärmsten.