Diesen Ländern droht eine Hungersnot
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Saskia Kobelt von Unicef:Diesen Ländern droht eine Hungersnot

Experten warnen vor indirekten Folgen des russischen Angriffs
Hunger, Aufstände, Flüchtlingswellen

Vom Weizen aus der Ukraine sind vor allem die Maghreb-Staaten abhängig. Explodierende Preise für Getreide könnten Nordafrika in die Katastrophe treiben.
Publiziert: 11.04.2022 um 09:06 Uhr
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Aktualisiert: 11.04.2022 um 17:15 Uhr
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Die Ukraine gilt als Kornkammer Europas. 2021 exportierte das Land über 21 Millionen Tonnen Weizen in alle Welt. Durch den Krieg sind viele Landwirte auf der Flucht und russische Kriegsschiffe blockieren die Exportrouten im Schwarzen Meer.
Foto: Future Publishing via Getty Images
Dominik Mate

Auch viele Tausend Kilometer von der Ukraine entfernt – und nicht nur für Millionen von Flüchtlingen – verursacht Putins Krieg Not und Entbehrung. Sri Lanka zum Beispiel leidet schon lange unter einer Wirtschaftskrise, wegen Corona fehlen fast sämtliche Einnahmen aus dem Tourismus. Nun könnten steigende Ölpreise den asiatischen Inselstaat endgültig in den Bankrott stürzen.

In Peru, auf der anderen Seite des Erdballs, lösten höhere Benzinkosten ebenfalls landesweite Proteste aus, mindestens vier Menschen kamen dabei ums Leben. Am gefährlichsten aber sind die globalen Folgen von Putins Aggression für die Länder Nordafrikas und den Nahen Osten, denn die sind besonders stark von ukrainischen und russischen Getreideexporten abhängig.

Vier Fünftel des in Ägypten verbrauchten Weizens stammen von dort. Nicht viel besser steht es in den umliegenden Ländern. 2021 bezogen 45 Nationen aus dieser Region mindestens ein Drittel ihres Getreides aus der Ukraine. So zeigen es Statistiken der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Uno.

In den letzten Wochen schoss der Weizenpreis an den internationalen Rohstoffbörsen rasant nach oben: Kostete eine Tonne vor dem Krieg umgerechnet etwa 240 Franken, sind es heute fast 340 – 2017 waren es im Durchschnitt nicht einmal halb so viel: 160 Franken.

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Hunger droht

Woher der Ersatz für fehlende Lieferungen aus dem Kriegsgebiet kommt, ist einerlei: Der rasante Preisanstieg gilt für alle Produzenten sowie für alle Konsumenten in Afrika und dem Vorderen Orient.

Ägypten hielt den Brotpreis seit Jahrzehnten aus politischen Gründen tief, jetzt stieg er beinahe über Nacht um 44 Prozent. Die Regierung in Kairo steht der Entwicklung machtlos gegenüber: Sie lässt nur noch verlauten, Präsident Abd al-Fattah as-Sisi (67) lägen die Bedürfnisse der Bürger am Herzen und die strategischen Weizenreserven reichten noch für acht Monate.

Tobias Heidland (36), Forschungsdirektor für Internationale Entwicklungen am Kieler Institut für Weltwirtschaft, hat errechnet, dass sich viele afrikanische Länder keine Importe mehr zum gegenwärtigen Preis leisten können.

Professor Till Förster (66), Gründungsdirektor des Zentrums für Afrikastudien an der Universität Basel, sieht die ärmere Hälfte der Erdbevölkerung, die ihr Einkommen hauptsächlich für Lebensmittel ausgeben muss, in existenzieller Gefahr: «Wenn dann noch die Preise für auf Mehl basierende Grundnahrungsmittel steigen, etwa Fladenbrot in Ägypten, dann bedeutet das für die Betroffenen schlicht Hunger.»

Um im September zu ernten, müssten die Felder der Ukraine jetzt bestellt werden. Doch es herrscht Krieg. Grosse Teile der Bevölkerung sind auf der Flucht. Zudem blockieren russische Kriegsschiffe die ukrainischen Exportwege über das Schwarze Meer. Die Ernte droht dieses Jahr komplett auszufallen.

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Auch die Demokratie ist in Gefahr

Im Gespräch mit SonntagsBlick lässt Jean Ziegler (87), Ex-Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, keinen Zweifel: Eine humanitäre Katastrophe lässt sich nur noch durch massive Aufstockung des Welternährungsprogramms verhindern. Schon heute hält die Uno-Soforthilfe faktisch 92 Millionen Menschen am Leben, nun dürften viele weitere Millionen hinzukommen. Das Welternährungsprogramm ist auf Beiträge der reichen Industrienationen angewiesen. Ziegler sieht sie in der Verantwortung, ihre Hilfszahlungen massiv zu erhöhen – und zwar bald!

Auf Anfrage hält Unicef fest, dass bis zu 47 Millionen Menschen infolge des Kriegs in der Ukraine von akutem Hunger bedroht sind. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen spricht von einem «Wettlauf gegen die Zeit».

Der Arabische Frühling 2010 und 2011 war unter anderem durch einen 40-prozentigen Anstieg der Getreidepreise ausgelöst worden. Eine Welle von Umsturzbewegungen war die Folge. In Ägypten, Jordanien und Tunesien wurden die Regierungen abgesetzt, Syrien, Libyen und der Jemen schlitterten in blutige Bürgerkriege, die noch heute andauern.

Die Länder Afrikas stehen aufgrund der rasant ansteigenden Nahrungsmittelpreise laut Katharina Michaelowa (53) vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich vor einer extrem fragilen Situation. Keine Frage: Auf Proteste dürften die meisten Regierungen mit einer Einschränkung der demokratischen Rechte antworten.

«Leute sterben nicht friedlich an Hunger»

Und sollte sich die Armee auf die Seite der Demonstranten schlagen, sieht es nicht besser aus. Denn dann kann es laut Michaelowa zu einer Militärdiktatur kommen. Till Förster vom Zentrum für Afrikastudien sagt: «Die Bedingungen sind heute ähnlich wie 2011, im Unterschied zu damals aber sind die Machthaber auf solche politischen Bewegungen besser vorbereitet, da ihnen die Ereignisse des Arabischen Frühlings noch vor Augen stehen.»

Jean Ziegler jedoch ist sich sicher: «Leute sterben nicht friedlich an Hunger.» Hungersnöte seien in der Weltgeschichte schon immer Hauptauslöser für Revolutionen und Umstürze gewesen.

Auf den Arabischen Frühling folgte eine massive Flüchtlingswelle, die europäischen Ländern bis heute grosse Probleme bereitet. Politologin Michaelowa rechnet im Falle von Hungersnöten mit einer grossen Zahl an afrikanischen Flüchtlingen, die nach Europa wollen. Sie kritisiert, dass eine Reihe von Industrieländern ihre Hilfe für die Ukraine zulasten der Entwicklungshilfe leistet – und die drohende humanitäre Katastrophe damit sogar indirekt heraufbeschwört.

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