Kalt ist es an diesem Morgen im Rheintal. Schneebedeckt zeigt sich der Säntis, dick eingepackt hasten Pendler durch den Bahnhof von Buchs SG.
Die Reisenden auf dem Perron nebenan verhalten sich anders, auffällig anders: Langsam und ängstlich entsteigen sie dem Nachtzug aus Wien. Dünne Jacken umhüllen ihre dünnen Körper. Fast alle sind Männer. Sie reisen ohne Gepäck. Die meisten haben lediglich ein Smartphone dabei.
Sie wirken wie Geister auf der Durchreise, Flüchtlinge aus Afghanistan, Migranten aus Tunesien, Indien oder Bangladesch, still und stumm, die auf keinen Fall auffallen wollen, nur möglichst rasch weiterziehen. «France, France» oder «Hamburg, Berlin» nennen sie als Reiseziele. Mehr Englisch scheinen sie nicht zu sprechen.
Die Schweizer Grenzwächter haben 80 von ihnen aus dem Zug geholt, die nun aufgereiht an einer Mauer stehen. Meist blicken sie schweigend zu Boden, warten ab, was da kommt. Die Routine der Grenzbeamten verrät, dass dieses Schauspiel hier schon länger läuft. Lange blieb es von der Öffentlichkeit unbemerkt.
Weiterreise in die Nachbarländer wird leicht gemacht
Heute ist auch eine Familie dabei. Das ist selten. Das Kind, eineinhalb Jahre alt, schaut schläfrig, seine Hosen sind nass. Die Familie aus Tunesien hat weder Wechselkleider noch Windeln dabei. Immerhin bitten die Grenzwächter die drei als Erste ins Zollhaus.
Fingerabdrücke, Personaldaten, Fahndungsdatenbank – während drinnen das Behörden-Prozedere beginnt, fährt draussen bereits der nächste Nachtzug in den Grenzbahnhof ein. Um auch den zu überprüfen, fehlt es nun aber an Personal. Die Migranten, die aus Kroatien einreisen, bleiben unkontrolliert.
Nach einer Viertelstunde verlassen die ersten Männer die Amtsstube. Sie wirken überrascht, dass sie schon wieder gehen dürfen, unschlüssig bewegen sie sich kaum von der Stelle. Allmählich löst sich die Anspannung, einige beginnen zu scherzen, bieten ihre Jacken zum Tausch an, sagen «Armani Afghanistan» und deuten auf Löcher, aus denen bereits das Innenfutter quillt.
Die Eidgenossenschaft wird ihnen keine weiteren Steine in den Weg legen. Was im Nachbarland für Diskussionen sorgt. «Schweizer winken Migranten nach Deutschland durch», titelten die Zeitungen. Kaum eine Talkshow, in der bundesrepublikanische Politiker oder Polizeigewerkschafter nicht verschärfte Grenzkontrollen fordern.
Die Schweiz halte sich an das Dubliner Abkommen, entgegnet die zuständige Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Und dies greife nur, wenn jemand ein Asylgesuch stellt, was jedoch in Buchs nicht geschehe. Daher fehle die Rechtsgrundlage, die Menschen festzuhalten.
Von offizieller Seite sei denn auch keine Kritik gekommen, weder aus Deutschland noch aus Frankreich, beantwortet das Staatssekretariat für Migration (SEM) eine Anfrage von SonntagsBlick.
SBB führt eigenes Zugabteil für «ausländische Gruppen»
Wer also ein Billett hat, darf weiterreisen. Wie Thamer (34), Barkeeper aus Tunesien, der zwar Deutsch und Französisch spricht, daheim aber schon lange keine ausländischen Touristen mehr antraf. «Kein Bakschisch», erklärt er, «darum gehen wir Tunesier nach Frankreich, dort gibt es einfach Schwarzarbeit.»
Die Afghanen in der Gruppe hingegen zieht es von Buchs weiter nach Deutschland. Sie wollen dort Asyl beantragen. Auf die Idee, in der Schweiz zu bleiben, kommt niemand. Thamer erklärt lächelnd, hier finde er niemals Arbeit, weil er ja seinen Pass unterwegs in Serbien «verloren» habe. In Österreich gebe es kaum Schwarzarbeit.
Und so trottet die Gruppe an wartenden Pendlerinnen und Pendlern vorbei, die kaum hinzuschauen wagen – aus Scham über die Gegensätze? –, und besteigt auf Anweisung des Bahnpersonals den hintersten Wagen des Interregio in Richtung Zürich, der für «ausländische Gruppen» reserviert ist.
«Die Staatsbahn stellt sogar Züge bereit», entsetzte sich die deutsche «Bild». Die SBB kommentieren trocken: «Viele sind mit Gruppenfahrausweisen unterwegs, und die berechtigen ohnehin zu einer Reservierung.»
Alle Wege führen nach Paris
Stunden später im Bahnhof Basel, dem anderen Brennpunkt in der aktuellen Asyllage: Vor den Regionalzügen nach Mulhouse und Strasbourg warten französische Grenzer. Pech für Idris und Mohammed Selim, die ohne Pass nicht nach Frankreich einreisen dürfen.
Die beiden Afghanen nehmen es nicht allzu tragisch. Zu viel haben sie bereits erlebt. Einer ihrer Brüder sei von Taliban getötet worden, erzählen sie, mit blossen Händen hätten sie Wasser aus ihrem Gummiboot zurück ins Mittelmeer geschöpft. Und jetzt machen sie sich dann eben in der Basler Innenstadt auf die Suche nach einem Taxi, das sie über die Grenze bringt. «Wir schaffen es sicher», sagen sie. Man glaubt es ihnen.
Der schnellste Weg nach Paris wäre der TGV, das wissen natürlich auch Mohammed (26) und Ousséma (28). Aber trotz Billett lässt man sie in Basel nicht in den Schnellzug.
Es ist Tag fünf ihrer Odyssee, je 5000 Euro haben die beiden Tunesier dafür bezahlt. Ohne Visa gelangten sie nach Serbien. Dort deponierten sie ihre Pässe bei einem «Freund», damit die Ungarn sie später nicht ins Heimatland abschieben. An der EU-Aussengrenze zwischen Serbien und Ungarn, zu der Schlepper sie brachten, seien sie nach drei Tagen fast erfroren. In der EU ging es dann mit dem Zug bis hierher.
Nun sind sie fast am Ziel: «France.» Dort hat Ousséma eine Schwester, sie hoffen wie viele, dort einen Job im Handyreparatur-Business zu ergattern. Unangemeldet und schwarz, versteht sich. Statt in den TGV steigen sie jetzt halt ins Tram nach St- Louis, das gleich hinter der Grenze liegt. Alle Wege führen nach Paris.
Gare de St- Louis: Oussémas Finger zittern, während er vorgibt, mit seinem Telefon beschäftigt zu sein. Er hat es tatsächlich im Tram nach «France» geschafft. Jetzt aber haben ihn vier Gendarmen in Vollmontur im Auge.
Acht Stunden sind seit der Ankunft in Buchs vergangen, in wenigen Minuten fährt sein Bummelzug nach Strasbourg. Wird er jetzt kontrolliert, könnte er noch in die Schweiz zurückgeschickt werden.
Doch dann fährt endlich der Regionalzug ein. Auf dem Gleis steht schon ein alter Bekannter aus Buchs: Barkeeper Thamer. Und der hat das Grinsen noch nicht verlernt. Wie Hunderte andere haben auch sie es an diesem Tag durch die Schweiz geschafft.
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