Anna (80) wedelt mit der blätterlosen Rose die Fliegen weg, die um ihr faltiges Gesicht surren. Es ist heiss hier am Stadtrand von Slowjansk direkt an der Frontlinie im Donbass-Krieg – und es ist laut. Alle paar Minuten donnern ukrainische Raketen von der einen und russische Granaten von der anderen Seite über Annas Häuschen hinweg und krachen irgendwo in die Erde. Manchmal weit weg, manchmal ganz nah. Gestern erst landete eines der russischen Geschosse auf der Strasse direkt vor Annas Garten. Brennend heisser Kupfer hat den Teer zerfetzt. Knapp war das. Doch Anna wedelt seelenruhig mit der blätterlosen Rose.
«Ich gehe nicht weg», sagt sie zu den ukrainischen Soldaten, die vor ein paar Minuten am Strassenrand angehalten und sie gefragt haben, ob sie nicht mitkommen wolle. «Ich muss doch erst noch das Gemüse in meinem Garten ernten!» Weitere Geschosse, wummerndes Dröhnen, beissender Rauch in der Luft. Anna bleibt auf ihrem Holzbänkli sitzen und regt sich kaum. Stattdessen beginnt sie zu erzählen: von der letzten Flucht 2014 aus Donezk hierher, von den 54 Jahren in der Fabrik, von den Nachbarn unten an der Strasse, die doch auch geblieben seien.
Raketenlärm statt sonntägliches Glockengeläut
Menschen wie Anna gibt es viele in den Grenzgebieten der Ukraine, da, wo die zivilisierte Welt ausfranst ins Chaos des Krieges. Alleine im umkämpften Donbass leben noch immer schätzungsweise 200’000 Zivilisten. Sie bleiben, sie gehen dem Alltag nach, sie pflegen die Gärten, sie grüssen freundlich, trotz des Krieges, der mit rücksichtsloser Gewalt über sie hereinbricht. Auf Besucher aus der friedlichen Welt wirken sie zuweilen wie emotionslose Roboter, gleichgültig gegenüber dem Krach und dem Gestank dieses Krieges, blind für die Zerstörung rund um sie herum. Der Raketenlärm ist für sie wie einst das sonntägliche Glockengeläut der längst verstummten Kirchen: Hintergrundbeschallung. Wen kümmerts.
Wie unglaublich schnell sich die Menschen selbst an die widrigsten Umstände gewöhnen, zeigt sich auch rund 600 Kilometer weiter westlich der Kriegsfront in den einstmals wohlhabenden Vororten von Kiew. Butscha, Irpin und Borodjanka gerieten früh im Krieg ins Visier der russischen Truppen. Putins Soldaten haben hier brutale Massaker angerichtet, Hunderte Menschen kaltblütig exekutiert, ebenso viele gefoltert, womöglich Tausende vergewaltigt. Heute noch sehen die Vororte aus wie das Set eines dystopischen Horrorfilms.
Die unsichtbaren Spuren des Krieges
Doch zwischen den schwarz verkohlten Blockruinen und den zerschossenen Häusern ist wieder der ganz normale Alltag eingekehrt. Im Zentrum von Irpin serviert eine hippe Konditorei farbige Kuchen und italienischen Espresso. Am Rand der Stadt mähen zwei Gemeindearbeiter das Gras zwischen einer zerstörten Kirche und den rostigen Überresten eines zerbombten Einkaufszentrums. Auf dem Marktplatz von Borodjanka verkaufen Händler wieder BHs, Socken und Gemüse. Direkt hinter ihren Ständen ragen ausgebrannte Wohnblöcke in den Himmel. Inmitten der dystopischen Kulisse steht Dmytro Tymoschenko (42), vor dem Krieg Möbelhändler, heute Marktbesucher, schlürft Espresso. Er zeigt auf die zerschossene Statue des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko (1814–1861) nebenan, zuckt mit den Schultern und sagt: «Uns Ukrainern fehlt schlicht die Energie, die ganze Zeit Angst zu haben.» Aufräumen, Rasen mähen, weitermachen: So therapiere man hier das Trauma des Krieges.
So gleichgültig ihre Fassade auch sei: Auch bei Menschen wie Dmytro Tymoschenko hinterlasse der Krieg seine Spuren, sagt der Konstanzer Kriegspsychologe Thomas Elbert (72). «Die Regulation der Stresshormone verändert sich. Menschen in Kriegsgebieten schlafen schlechter, haben einen deutlich erhöhten Blutdruck und tragen tagsüber ein konstantes Unsicherheitsgefühl mit sich herum.» Mit diesem Bedrohungsstress könne man vielleicht ein «mageres Jahr» durchstehen. «Aber das kostet», sagt Elbert am Telefon.
Grundsätzlich gäbe es zwei Reaktionsmuster von Menschen in solchen Extremsituationen. Bei manchen führt das stete Auf und Ab der Stresshormone zur Erschöpfung. «Das mündet dann in Depressionen und Immunschwäche», erklärt der Experte. Bei anderen aber kommt es zu einer Abflachung der Stresshormone. Die Konsequenz: Bauchfett, Diabetes, Verlust von Muskelmasse und ungesunder Blutdruck. «Bis diese Kriegs-Nebenwirkungen voll zuschlagen, kann es Jahre dauern. Wenn der Krieg in der Ukraine anhält und Sie in zwei, drei Jahren wieder hinreisen, werden Sie solche massiven Veränderungen bei den Menschen feststellen.»
Über die Monate abgestumpft
Verändert hat sich für Ivan (19) jetzt schon vieles – fast alles, eigentlich. «Wanja», wie sie ihm hier sagen, ist der jüngste Soldat der 79. Brigade. Seit Februar kämpft er mit seinen Kameraden an der Front. Zuerst in Mikolajew im Süden, jetzt im Donbass im Osten. «Am Anfang konnte ich kaum schlafen, hatte ständig Angst um mein Leben», erzählt Wanja. Irgendwann aber sei die Angst plötzlich verschwunden. «Ein bisschen Nervosität ist geblieben, das hält dich am Leben. Aber irgendwann lernst du, das zu kontrollieren.»
Wanja ist vieles, sagen seine Kameraden der 79. Brigade: ein guter Schütze, ein hilfsbereiter Sanitäter, vor allem aber ein geschickter Bombenbastler. Deshalb nehmen ihn die älteren Kameraden gerne mit, wenn sie zu ihren versteckten Positionen direkt hinter der Front ausrücken. Wanja sitzt im Versteck an einem kleinen Holztisch und packt seine Bomben aus. Sie sehen aus wie Spielzeug-U-Boote. Niedlich irgendwie. Doch wenn der 19-Jährige die Bömbchen an seine Drohne hängt und hinüberfliegt in die russisch kontrollierte Zone, dann bringen sie den Tod. Seelenruhig bereitet Wanja alles vor. An den «guten Tagen», wenn er die Russen findet, dann tötet er per Knopfdruck. Alles normal. Kein Grund für Emotionen.
Abgeschaut hat sich Wanja das bei seinen älteren Kameraden drüben bei der Raketenwerfer-Stellung im Wald: Sie warten, schiessen, warten, verstecken sich, schiessen wieder, warten. Das Töten, das Dem-Tod-Entfliehen, der Krach, die Gefahr, das ist für sie hundskommuner Alltag. In den Pausen telefonieren sie mit ihren Frauen, zeigen sich Fotos der Kinder, scrollen durch die sozialen Medien, rauchen. Wie ganz normale Arbeiter mit ganz normalen Jobs. «Wie ich das aushalte?» Vitali (36) wiederholt die Frage fast ungläubig. «Ist doch alles ganz normal», sagt der Soldat, der vor wenigen Minuten fünf Raketen auf die Russen abgefeuert hat und jetzt wieder entspannt im Unterholz liegt.
Krieg ist zur Normalität geworden
Kriegspsychologe Thomas Elbert spricht am Telefon vom «Jagdmodus», in den Soldaten im Krieg geraten. «Sie haben eine klare Aufgabe: Sie jagen den Feind. Das schützt für eine gewisse Zeit vor Trauma. Aber nicht beliebig lange.» Auch Soldaten hätten stets mit dieser Ambivalenz zu kämpfen: «Bin ich wirklich der Held? Oder bald vielleicht ein Opfer?» Diesen Zwiespalt auszuhalten, das gehöre genauso zum Job des Soldaten wie das Jagen. «Wer als Soldat nicht bereit ist, andere zu töten, der muss gar nicht erst in den Krieg ziehen», sagt Elbert.
Für viele Menschen in der Ukraine, ob Soldaten oder Zivilisten, ist zur Normalität geworden, was für keinen Menschen je Normalität sein sollte. Ihr Alltag ist bestimmt von Krach und Gestank, von Tod und Zerstörung. Sie reagieren mit stoischer Gleichgültigkeit. Es scheint ihr einziger Weg, mit der Extremsituation klarzukommen.
Auch Anna wedelt am Stadtrand von Slowjansk noch immer mit der blätterlosen Rose. «Wer seid ihr überhaupt?», fragt sie die Soldaten, die ihr eben einen Platz in ihrem Jeep angeboten haben. «Wir sind von der ukrainischen Armee», sagt der Soldat. «Aha», sagt Anna. «Dann beendet jetzt diesen Krieg! Ich will wieder meine Ruhe haben.»