Die Schreckensmeldung erreichte Eva Samoylenko-Niederer (41) am Mittwoch auf dem Weg ins Bett. «Ich wollte mich gerade hinlegen, da erhielten wir die Nachricht, dass die Russen unser Kinderheim in Slowjansk komplett zerstört haben», erzählt sie im Gespräch mit Blick.
Am Morgen danach trudeln erste Bilder auf dem Handy der Schweizerin ein. Das farbige Haus am Rand der Donbass-Stadt, in dem die Schweizerin während 16 Jahren Kinder aus schwierigen Verhältnissen betreute: nur noch eine graue Ruine. Auf dem Spielplatz vor dem Eingang, im Garten hinter dem Heim: überall Schutt, Glasscherben und Geröll.
Wie durch ein Wunder keine Tote
Die Szenerie wirkt verstörend. Doch Tote oder Verletzte gab es wie durch ein Wunder keine. Die Heimkinder haben Eva und ihr Team bereits im März evakuiert. «Damals habe auch ich mich von unserem Heim verabschiedet», erzählt Samoylenko-Niederer.
Sie wusste, dass der schlimme Tag kommen wird, an dem ihr Heim wieder ins Visier der russischen Geschütze gerät. «Ich bin am achten Tag des Kriegs noch einmal durch alle Zimmer gegangen, habe ein paar Fotos gemacht und mich dann damit abgefunden, dass ich wahrscheinlich nie mehr hierhin in unser Kinderheim zurückkehren kann.»
Am Telefon wirkt die gebürtige Wädenswilerin gefasst. 2006 ist sie in den Donbass gezogen und hat mit ihrem Mann Andrej das Kinderheim «Segel der Hoffnung» übernommen. 2014, als prorussische Separatisten den Donbass attackierten, wurde das Gebäude schon einmal komplett zerstört. Im Jahr darauf haben Samoylenko-Niederer und ihre Helfer das Heim wiederaufgebaut. «Natürlich tut es weh, jetzt diese Bilder zu sehen. Aber seit 2014 weiss ich, dass es möglich ist, selbst nach einem solchen Schlag noch einmal neu anzufangen», erzählt sie.
«Putin kann mein Lebenswerk nicht zerstören»
Einfach werde das nicht. Aber von den Russen lasse sie sich nicht stoppen. «Putin kann mein Lebenswerk nicht zerstören. Er kann mir mein Gebäude zerbomben, einmal, zweimal dreimal. Aber mein Lebenswerk, das sind die Heimkinder, die jetzt in ganz Europa verteilt in Sicherheit sind», sagt sie.
Und jetzt? «Wir machen weiter. Die Not ist riesig in diesem Land, ganz viele Menschen brauchen Hilfe. Und wir können was verändern – auch ohne unser Gebäude in Slowjansk», erzählt sie. Mehr als 2300 Tonnen Hilfsgüter haben ihre Helferinnen und Helfer schon in die kriegsversehrten Gebiete gebracht, mehr als 23’000 Menschen aus der Gefahrenzone evakuiert.
Ihr Glaube gibt ihr Kraft
Am Donnerstag hat sie auf ihrem Computer einen Ordner angelegt mit allen Fotos vom zerbombten Heim – für die Versicherung. «Du weisst, dass etwas nicht ganz stimmt mit deinem Leben, wenn du auf deinem Computer einen Ordner ‹Zerstörung Kinderheim› anlegst – und dann merkst, dass du vor acht Jahren schon einmal genau denselben Ordner angelegt hast», sagt Samoylenko-Niederer.
Kraft schöpft sie in diesem schwierigen Moment aus ihrem Glauben. «Wenn Gott dir etwas wegnimmt, dann ist das ein Zeichen: Er hat offenbar etwas Besseres vor mit dir», meint die gläubige Christin. Was das genau ist, das weiss Eva Samoylenko-Niederer noch nicht. Bereit dafür ist sie aber mehr denn je.