16 Kilometer noch, dann stehen die russischen Soldaten wieder in Eva Samoylenko-Niederers (41) Garten. Wie damals 2014, beim ersten Krieg im Donbass, als prorussische Separatisten ihr Kinderheim am Stadtrand von Slowjansk als Rückzugsort für ihre Scharfschützen missbraucht haben. Kurz darauf lag das Heim in Schutt und Asche. Eva Samoylenko-Niederer, die gebürtige Wädenswilerin, stand vor einem Trümmerhaufen.
2006 ist die Primarlehrerin vom Ufer des Zürichsees in den Donbass gezogen und hat mit ihrem Mann das Kinderheim «Segel der Hoffnung» übernommen. Ein Herzensprojekt für die gläubige Schweizerin. Nach dem ersten Donbass-Krieg 2014 hat sie das Heim mit Freiwilligen wieder aufgebaut. Ein Neubeginn, ein Lichtblick für die vernachlässigten Kinder in der ostukrainischen Stadt, hinter deren sowjetischen Fassaden allzu oft der Alkohol und häusliche Gewalt das Alltagsleben bestimmen.
80 Prozent der Bevölkerung sind aus Slowjansk geflohen
«Die Heimkinder haben wir mit ihren Familien evakuiert. Seit Tagen nimmt die russische Armee unsere Heimatstadt wieder unter Beschuss. Vergangene Woche haben die Russen ein Schulgspänli meiner jüngsten Töchter ermordet», erzählt Eva Samoylenko-Niederer. Eines von 346 ukrainischen Kindern, die in diesem Krieg laut ukrainischen Angaben bereits getötet worden sind. Überprüfen lassen sich die Zahlen nicht.
Die farbig bemalten Zimmer des Kinderheims stehen leer. Im Quartier sind vergangene Woche mehrere Häuser von Raketen zerstört worden. Fast 80 Prozent der Stadtbevölkerung sind geflohen. Zurückgeblieben sind die ukrainischen Soldaten. Der Kampf um Slowjansk – da sind sich die Experten einig – wird die entscheidende Schlacht in diesem Krieg. Slowjansk und die Nachbarstadt Kramatorsk sind die letzten Städte der Gegend unter der Kontrolle der Ukrainer. Wenn sie fallen, kontrolliert Putin den gesamten Donbass.
Evas Kinderheim steht wie schon 2014 wieder an der Kriegsfront. In den Bäumen draussen im Garten stecken noch immer Bombensplitter von damals. Das blaue Stahltor vor dem Gartenhaus ist zerlöchert von Munitionssplittern. Die Spuren des letzten Kriegs sind noch nicht verwischt, da kommt schon der nächste.
«Ich will nicht mit den Mördern meiner Nachbarn leben»
Blick erreicht Eva per Videocall im Dorf Hanychi in der Westukraine. Zehn Tage nach Kriegsausbruch ist sie mit ihren drei Töchtern hierhin geflohen. «Jeder hat seinen Rucksack gepackt mit ein paar Kleidern, einem Spielzeug und Farmer-Stängeln. Alles andere haben wir in unserem Haus zurückgelassen. Wahrscheinlich werden wir es nie wieder sehen», sagt die Schweizerin. Als sie im bitterkalten Winter ihre Heimat verliess, wusste sie, dass es wohl ein Abschied für immer wird.
Aus der Ferne schaut die dreifache Mutter jetzt täglich auf den Horror, der ihre Wahlheimat überrollt. Schon jetzt gibts in Slowjansk kein Gas, keinen Strom und kein fliessendes Wasser mehr. Die Menschen kochen draussen über dem Feuer. «Kirchen, Schulhäuser und unser Marktplatz sind zerstört. Immer wieder werden Menschen aus unserem Bekanntenkreis getötet», erzählt Eva. Sie betet weiter für ein Wunder, doch die Hoffnung schwindet von Tag zu Tag. Falls Slowjansk tatsächlich an die Russen fällt und besetzt wird, wird sie nicht zurückkehren. «Ich will nicht mit den Mördern meiner Nachbarn zusammenleben.»
Während des Gesprächs wischt sie immer wieder eingehende Anrufe von Menschen weg, die sie um Hilfe bitten wollen. Seit ihrer Flucht in die Westukraine hat die Schweizerin mit zahlreichen Freiwilligen ein Hilfsnetzwerk aufgebaut. Ihre Fahrer evakuieren alte und kranke Menschen aus dem Kriegsgebiet und bringen Hilfsgüter in die isolierten Dörfer im Osten. Ihre Helferinnen kümmern sich um die Vertriebenen in der Zentralukraine.
Sie selbst koordiniert, telefoniert, organisiert, fast rund um die Uhr, unermüdlich. «Seit Kriegsausbruch konnten wir 22’000 Leute in Sicherheit bringen und mehr als 1800 Tonnen Hilfsgüter und Lebensmittel in die umkämpften Gebiete liefern», erzählt Eva, und wischt den nächsten Anruf weg.
Rückkehr in die Schweiz kommt nicht in Frage
Den Krieg werde die Ukraine letztendlich gewinnen, sagt sie. «Wir haben so viel geopfert, wir müssen einfach siegen.» Sie tut, was sie kann. Doch die Arbeit wird immer mehr – und die Ressourcen immer weniger. Ihr Hilfswerk lebt von freiwilligen Spenden aus der Schweiz. «Und die Not ist sehr viel grösser als unsere Ressourcen», sagt Eva Samoylenko-Niederer.
Und sie selbst? Mit ihrem roten Pass könnte sie jederzeit in den Zug steigen und zurückkommen in die Schweiz. «Kommt für mich nicht in Frage», sagt Eva. Mit dem kleinen Lohn, den sie monatlich von ihrem Hilfswerk erhält, könnte sie hier nicht überleben. «Und noch viel schlimmer: Ich müsste meinen Mann zurücklassen. Er darf die Ukraine wegen des geltenden Militärgesetzes nicht verlassen.»
Eva bleibt. Auch wenn die Russen wieder kommen. Auch wenn ihr Lebenswerk wohl bald zum zweiten Mal in Schutt und Asche liegt.