Mit dem Fall der ostukrainischen Stadt Lyssytschansk stellt sich die Frage nach den nächsten Schritten der russischen Truppen in der Ukraine. Den Donbass abriegeln, weiter vorrücken, verhandeln und damit das Gewonnene sichern oder den Westen spalten? Russlands Präsident Wladimir Putin (69) hat viele Möglichkeiten, seine Ziele bleiben undurchsichtig. Eine Übersicht.
Weiteres Vorrücken
Niemand scheint die russischen Truppen mehr davon abhalten zu können, den Donbass komplett unter ihre Kontrolle zu bekommen. Pierre Grasser vom Fachbereich internationale Beziehungen an der Universität Sorbonne ist der Ansicht, Russland könnte als Nächstes versuchen, die Städte Slowjansk und Kramatorsk einzunehmen.
Allerdings haben die russischen Truppen gezeigt, dass sie nicht in der Lage sind, allzu weit gegen den Feind vorzurücken. Die russische «Dampfwalze funktioniert gut in der Nähe ihrer Grenzen, ihrer Logistikzentren und ihrer Luftstützpunkte», sagt Pierre Razoux von der Mittelmeerstiftung für strategische Studien zur Nachrichtenagentur AFP. «Je weiter sie sich von ihnen entfernen, desto komplizierter wird es.»
Blockade des Schwarzen Meeres
Die russische Armee hat die südukrainische Stadt Cherson zu Beginn des Krieges schnell eingenommen. Doch die Situation an den Ufern des Schwarzen Meeres ist nicht stabil. Der australische Militärexperte Mick Ryan ist der Meinung, dass der Krieg im Süden sowie die «Befreiung ukrainischer Häfen von russischem Einfluss» von «sehr grosser strategischer Bedeutung» sei.
Die Kontrolle der Küste würde Moskau ein zusammenhängendes Territorium mit der 2014 annektierten Krim sowie den Zugang zu ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer verschaffen. Doch «die Gegenangriffe der Ukraine im Süden bedeuten für die Russen ein Dilemma. Erhalten sie die Offensive im Osten aufrecht oder stärken sie den Süden?», gibt Ryan zu bedenken.
Angriff auf Charkiw
Charkiw im Nordosten der Ukraine ist die zweitgrösste Stadt des Landes. Nur einen Steinwurf von der Grenze zu Russland entfernt, ist Charkiw nach wie vor unter ukrainischer Kontrolle und könnte laut Wissenschaftler Razoux das nächste Ziel für Putin sein.
Im Falle eines «ukrainischen Einbrechens» könnte Moskau die ukrainischen Truppen demnach zu der Entscheidung nötigen, ob sie Charkiw verteidigen oder nach Süden in Richtung Cherson ausweichen. Eine Schlacht um die etwa 1,4 Millionen Einwohner zählende Stadt Charkiw wäre zweifellos zerstörerisch, eine Belagerung könnte laut Razoux ein Jahr dauern.
Spaltung des Westens
Mit jedem weiteren militärischen Erfolg treibt Putin den Keil tiefer in die westliche Solidarität. Colin Clarke vom New Yorker Soufan Center sagte, Russlands Ziel sei es, «die ukrainischen Truppen weiter aufzureiben» und darauf zu warten, dass «die politische Unterstützung für die Ukraine im Westen nachlässt».
Kiew hängt am Tropf der westlichen Militärhilfe. Doch laut Alexander Grinberg vom Jerusalem Institut für Sicherheit und Strategie ist den Ukrainern klar, «dass der Westen nicht all die schweren Waffen liefern kann, die sie brauchen». Jede weitere Kriegswoche verstärkt den Druck auf die öffentliche Meinung im Westen hinsichtlich der Inflation und der Energiekrise. Laut Grinberg könnten die USA den Ukrainern eines Tages einfach sagen: «Ihr könnt nicht weitermachen.»
Beginn von Verhandlungen
Die russischen Fortschritte sollten die Kosten nicht vergessen machen: Sanktionen, Menschenleben und die Vernichtung von Material. Putin hätte nach Meinung von Analysten viele Gründe, den Krieg beenden zu wollen. Ende Juni hatte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow (54) erklärt, die ukrainischen Soldaten müssten nur ihre Waffen niederlegen und die von Russland gestellten Forderungen erfüllen. «Dann wird alles an einem Tag vorbei sein.»
Doch selbst wenn der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) versucht wäre, den Donbass für Frieden einzutauschen, lehnen sein rechter Parteiflügel und seine Generäle laut Razoux «jeglichen Kompromiss mit Russland» ab. «Sie können einen eingefrorenen Konflikt tolerieren, aber keine Niederlage.» (AFP/jmh)