Die russische Führung droht dem Westen mit Atomwaffen. Dabei geht nukleare Verseuchungs- und Zerstörungsgefahr nicht nur von einem Atomschlag aus. Das zehntgrösste Atomkraftwerk der Welt, das gleich an der Frontlinie zwischen russischen und ukrainischen Truppen liegt, strotzt derzeit vor Waffen. Die russischen Besatzer haben es vermint und bauen es zur Militärbastion aus. Eine fehlgeleitete Rakete, eine unkontrollierte Explosion – und Europa und dem angrenzenden Asien und Nahen Osten droht ein nuklearer GAU.
Diese Woche warnte die Uno-Atombehörde (IAEA) vor einem hohen Unfallrisiko in Saporischschja. Saporischschja am Dnepr ist seit Tschernobyl das grösste Atomkraftwerk der Ukraine, das neuerdings auch Strom nach Europa liefert. Die russischen Besatzer eroberten das AKW schon am achten Tag der Invasion. Selber können sie den Betrieb nicht sicherstellen. Dazu zwingen sie die einheimischen Ukrainer, praktisch unter vorgehaltener Waffe.
Diese lokalen AKW-Mitarbeiter seien extremem Stress und schwierigen Arbeitsbedingungen ausgesetzt, warnte IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi (61) am Dienstag: «Jeden Tag, an dem das so weitergeht, steigt das Risiko für einen Unfall oder eine Verletzung der Sicherheit.» Sprich: für einen atomaren GAU.
«Seit Monaten andauernde Sicherheitskrise»
Die Kameras und Kontrollanlagen, die der IAEA Überwachungsdaten liefern sollten, schalten die Russen sporadisch ab. Zudem wurden die Nuklearanlagen vermint und mit schweren Geschützen ausgebaut, berichtet das «Wall Street Journal».
Die mehr als 500 beim AKW stationierten russischen Soldaten stellten kürzlich schwere Artilleriebatterien um die Anlagen auf. Um den Stausee, dessen Wasser die sechs Reaktoren kühlt, wurden Antipersonen-Minen gelegt.
«Die russische Armee verwandelt Europas grösstes Kernkraftwerk in einen Militärstützpunkt mit Blick auf eine aktive Front», schreiben die Reporter der US-Zeitung. «Damit verschärfen die Russen eine seit Monaten andauernde Sicherheitskrise für die riesige Anlage und ihre Tausende von Mitarbeitern.»
AKW dient als Schutzschild
Die Frontlinie verläuft praktisch in Sichtweite. Die ukrainische Armee hält die Städte am gegenüberliegenden Ufer des Dnepr, etwa fünf Kilometer entfernt. Die Kernreaktoren sind der beste Schutz für die Russen. Die Ukrainer sehen keine Chance, die Anlagen anzugreifen. Es wären brandgefährliche Artilleriegefechte um aktive Kernreaktoren.
Die kritische Infrastruktur dient den Russen als Schutzschild. Moskaus Streitkräfte nutzen das AKW «wie einen Stützpunkt für ihre Artillerie», wird ein in der Nähe stationierter europäischer Beamter zitiert. «Sie wissen, dass die Ukraine ihre Angriffe von der Anlage aus nicht erwidern wird.»
Zweites Tschernobyl befürchtet
Die Mitarbeiter von Saporischschja und ihre Familien befürchten, dass die zunehmende Militarisierung des Kraftwerks zu einem weiteren Unfall führen könnte. Dies bloss 500 Kilometer von Tschernobyl entfernt, dem Schauplatz der schlimmsten Nuklearkatastrophe der Geschichte. Die Besatzer «verstehen nicht, was aufgrund ihrer Handlungen dort passieren könnte», sagt die Frau eines lokalen AKW-Beschäftigten.
Das AKW ist in der Hand der Russen, wird aber noch immer von der ukrainischen Atombehörde Energoatom betrieben. Nach Angaben der russischen Atombehörde Rosatom sind eigene Leute vor Ort, «um dem Betreiber bei Bedarf technische, beratende, kommunikative und sonstige Unterstützung zu bieten».
Diese Woche drohten die Russen, die Kühlbecken abzulassen, um Waffen zu finden, die ukrainische Widerstandskämpfer unter Wasser versteckt haben sollen. Dies könnte eine grosse Gefahr für die Anlagen darstellen. Ihr Betrieb ist auf einen ständigen Fluss von gefiltertem Wasser zur Kühlung der Reaktoren und abgebrannten Brennstäbe angewiesen.
Reichern die Russen dort waffenfähiges Uran und Plutonium an?
Demnach haben auch viele der rund 11'000 ukrainische Angestellten Überstunden zu leisten, um den Betrieb von Saporischschja sicherzustellen. Zudem hätten Russen etwa 40 der ukrainischen AKW-Arbeiter gekidnappt und würden Lösegeld verlangen.
«Bitte helft mir», schreibt einer der Gekidnappten im Chat-Dienst Viber. Er zeigt Fotos seines schwer geprellten Gesichts und rechten Beins. Das rechte Auge ist blutunterlaufen. Die Russen lassen ihn nur frei, wenn innerhalb von drei Tagen 50'000 Hrywnja bezahlt werden, umgerechnet 1630 Franken. «Solche Fälle sind keineswegs ein Einzelfall», wird ein Arbeiter zitiert, der unlängst in die unbesetzte Ukraine floh. «Keiner will der Nächste sein.»
Derweil fürchtet die IAEA um den Betrieb in Saporischschja. Seit Monaten versucht die Uno-Atombehörde erfolglos, die Anlagen zu inspizieren. IAEA-Direktor Grossi will sich auch vergewissern, dass kein angereichertes Uran und kein angereichertes Plutonium aus dem AKW abhanden gekommen ist. Es könnte, auch wenn dies technisch äussert schwierig sei, das nukleare Material auf ein viel höheres, waffenfähiges Niveau anzureichern. «Das ist es», sagte Grossi im Mai vor einem Publikum in der Schweiz, «was uns im Moment nachts wach hält».