Russland scheint in der Ostukraine erneut auf dem Vormarsch zu sein, die Eroberung der Stadt Lyssytschansk bringt die russischen Truppen einen Schritt näher an ihr Ziel: die vollständige Eroberung des gesamten Donbass mit den beiden Separatistengebieten Luhansk und Donezk.
Trotzdem kritisiert der frühere militärische Anführer von Donezk, Igor Girkin (51), die russische Kriegsführung scharf. Sie sei zu zögerlich. Zudem hat er auf seinem Telegram-Channel vor einer russischen Niederlage in der Ukraine gewarnt. Der ehemalige Milizchef schreckt in seiner Kritik auch nicht davor zurück, Wladimir Putin (69) wenig schmeichelhaft mit Napoleon Bonaparte (1769–1821) zu vergleichen.
Denn: Statt proaktiv zu handeln, warte man im Kreml viel lieber – und vergeblich – auf ein Waffenstillstandsangebot, schreibt Girkin. «Genau wie Napoleon 1812, der – statt der Lage nach angemessen zu handeln – hoffnungslos und trübselig auf Unterhändler aus St. Petersburg wartete.»
Russisches «Offensivpotenzial» erschöpft
Parallelen zum französischen Kaiser gäbe es genug, so Girkin. Dieser wartete nach der Eroberung Moskaus auf Russlands Kapitulation – und musste dann den Rückzug antreten, wobei das französische Heer vernichtend geschlagen wurde. Ein ähnliches Szenario sieht Girkin auf Russland zukommen: Der Donbass mag vielleicht erobert werden, doch die Ukraine werde sich wohl nicht kampflos ergeben.
Mehr Kritik an Wladimir Putin
Die russische «militärische Spezial-Operation» kritisierte Girkin wiederholt als unzureichend und fordert eine Mobilmachung im Land. Er verlangt die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft und warnt immer wieder vor einer militärischen Niederlage Moskaus. Denn ohne Kriegswirtschaft sei der Krieg nicht zu gewinnen.
Nach der Einnahme von Lyssytschansk sei das «Offensivpotenzial» der dort kämpfenden Einheiten erschöpft. Ohne frische Reserven und Nachschub an Waffen seien keine nennenswerten Gebietsgewinne mehr zu erwarten, prognostizierte er.
Girkin ist international zur Verhaftung ausgeschrieben
Girkin ist ein russischer Ex-Geheimdienstler, der schon seit 2014 in der Ukraine tätig ist. Er war sowohl bei der von Moskau betriebenen Annexion der Krim als auch später bei den separatistischen Abspaltungsversuchen um ukrainischen Donbass massgeblich beteiligt. So leitete er unter anderem als «Verteidigungsminister» den Aufstand gegen Kiew in der Ostukraine – und forderte bereits seit Jahren einen Krieg in der Ukraine.
Nach Erkenntnissen westlicher Geheimdienste war er Oberst des russischen Militärgeheimdienstes GRU, in der Öffentlichkeit trat er unter dem Pseudonym Igor Strelkow auf. Girkin ist im Zusammenhang mit dem Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges 17 international zur Verhaftung ausgeschrieben. (chs)