Vor grosser Donbass-Schlacht
«Im Ukraine-Krieg steht es weiterhin unentschieden»

Die ukrainische Stadt Lyssytschansk fällt an die Russen. Doch der Krieg ist noch lange nicht entschieden, sagt Sicherheitsexperte Benno Zogg. Mehrere Gründe sprechen sogar für einen ukrainischen Sieg.
Publiziert: 04.07.2022 um 18:18 Uhr
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Präsident Wolodimir Selenski hat seine Truppen im Donbass mehrfach besucht. Er glaubt noch immer an die baldige Rückeroberung des Gebiets durch ukrainische Soldaten.
Foto: Anadolu Agency via Getty Images
Samuel Schumacher

Russische Truppen haben am Sonntag Lyssytschansk (100'000 Einwohnerinnen und Einwohner) erobert. Damit ist die ostukrainische Region Luhansk fest in Moskaus Händen. Jetzt nimmt Putin Donezk, die zweite Hälfte des Donbass, ins Visier. Die Ukraine steht vor einer entscheidenden Schlacht. Mehrere Entwicklungen sprechen für die Ukraine.

Wieso ist die Eroberung der Stadt Lyssytschansk für die Russen so wichtig?

Durch die jüngste Eroberung rücken die Russen einen grossen Schritt näher an Slowjansk und Kramatorsk, das eigentliche Zentrum der ukrainischen Verteidigungskräfte im Donbass. Die Schlacht um den Donbass ist damit aber noch lange nicht entschieden. Im Gegenteil, sagt Benno Zogg (32), Experte für Sicherheitspolitik am Center for Security Studies der ETH Zürich: «Wenn man sich die Überlegenheit der russischen Truppen vor Augen führt, dann sind Putins Erfolge im Donbass bislang sehr überschaubar.»

Dass die Russen langsam und nur dank enormem Materialeinsatz vorankommen, wertet Zogg gar als Erfolg der ukrainischen Seite. Auch in anderen Gebieten – etwa auf der Schlangeninsel oder rund um die Stadt Cherson – haben die Ukrainer jüngst militärische Erfolge feiern können. «Beim Ukraine-Krieg steht es insgesamt weiterhin unentschieden – mit einem leichten Vorteil für die russische Seite.»

Wie gehts jetzt weiter in der Ukraine?

Russische Truppen werden versuchen, die Städte Slowjansk und Kramatorsk unter ihre Kontrolle zu bringen. Schon 2014, beim ersten ukrainisch-russischen Krieg im Donbass, markierte die blutige Schlacht um Slowjansk das Finale der Auseinandersetzung zwischen den beiden Ländern. Damals gelang es den ukrainischen Truppen, die prorussischen Besatzer wieder aus Slowjansk zu vertreiben.

Sicherheitsexperte Benno Zogg rechnet damit, dass der Krieg noch lange dauern wird. «Die russischen Truppen müssen um jeden Quadratkilometer hart kämpfen. Wir sehen eine richtige Materialschlacht. Wie schon in Mariupol und in Sjewjerodonezk verlieren beide Seiten unglaublich viele Fahrzeuge, Material – und natürlich Männer.»

Wenn Putin den Donbass erobert: Gibt er sich dann zufrieden?

Putins Kriegsziel bleibt dasselbe wie am Anfang: Er will die Ukraine destabilisieren und verhindern, dass es zu einer weiteren Annäherung zwischen Kiew und dem westlichen Verteidigungsbündnis Nato kommt. Der Krieg sei dabei nur eine Möglichkeit, die Ukraine schwach und abhängig zu halten, sagt Benno Zogg. «Putin wird irgendwann versuchen, der Ukraine in einem erzwungenen Friedensabkommen harte Bedingungen zu diktieren – etwa den Verzicht auf Territorium und auf weitere Annäherungen zur Nato oder zur EU.» Sowohl der Nato- wie auch der EU-Beitritt (beides ist derzeit kaum realistisch) würde die Ukraine transparenter, effizienter und wohlhabender machen: alles Entwicklungen, die Putin verhindern will.

Kann die Ukraine den Krieg überhaupt noch gewinnen?

Kiew gibt sich auch am 132. Kriegstag zuversichtlich und kampfeslustig. Wolodimir Selenski (44) betonte kurz nach der russischen Eroberung von Lyssytschansk: «Wir werden zurückkommen.» Die Truppen würden sich in der Zwischenzeit neu formieren und aufrüsten. Doch allzu rosig ist die Lage für Kiew nicht: Der Ukraine gehen allmählich die 122-mm- und 152-mm-Geschosse aus, die sie für ihre alten Sowjet-Artillerie-Waffen braucht. Täglich verschiessen ukrainische Truppen mehr der Geschosse, als weltweit an einem Tag produziert werden.

Umso dringender bräuchte Kiew moderne westliche Waffen. «Mit präzisen westlichen Artilleriewaffen könnte die Ukraine auch russische Artilleriestellungen ausserhalb von deren Reichweite angreifen und damit die zahlenmässige Übermacht der Russen teilweise ausgleichen», sagt Sicherheitsexperte Zogg.

Wann ist der Krieg vorbei?

Der ukrainische Geheimdienst geht davon aus, dass Russland die Kampfhandlungen bis im September beenden will. Sicherheitsexperte Zogg erachtet einen Waffenstillstand im Herbst als durchaus möglich: «Beide Seiten sind erschöpft. Es ist gut denkbar, dass Russland den Ukrainern im Herbst einen Waffenstillstand vorschlägt und dann den Winter dazu nutzen könnte, neue Soldaten zu rekrutieren und aufzurüsten.»

Im Frühling könnte der Krieg dann von Neuem losgehen, wenn die Friedensverhandlungen nicht fruchten. «Beide Seiten dürften in der Lage sein, den Krieg noch jahrelang weiterzuführen, zeitweise vielleicht mit niedrigerer Intensität. Wir müssen uns auf einen langen Konflikt einstellen, was besonders für Kiew schmerzhaft wäre.»

Doch auch Moskau steht vor Problemen – zum Beispiel mit Blick auf die heimischen Werkstätten. Laut dem ukrainischen Geheimdienst sitzt Moskau auf einem ganzen Stapel unbezahlter Rechnungen von Firmen, die kaputtes Kriegsgerät reparieren. Der Kreml kann nicht zahlen und die dringend nötigen Reparaturarbeiten werden verschleppt. Die russische Kriegsmaschinerie scheint nach gut vier Monaten Ukraine-Krieg ins Stocken zu geraten.

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