Als das Fenster ihrer Stube zersplitterte, hatte Nadja (71) genug. In dem Quartier der Donbass-Stadt Slowjansk hatte mal wieder eine russische Granate eingeschlagen. Es kann auch eine Rakete gewesen sein – wer weiss das schon nach monatelangem Dauerbeschuss? Geknallt hat es jedenfalls. Die Scheiben in Nadjas Wohnung waren in tausend Teile zerschmettert. Sogar das Tape, das ihre Nachbarin zum Schutz wie ein Spinnennetz auf das Glas geklebt hatte, war von der Wucht der Explosion zerfetzt.
Nadja griff zum Hörer und wählte die Nummer der «Angels of Salvation». «Könnt ihr mich rausholen?», fragte die alte Frau mit brüchiger Stimme. «Natürlich», sagten die selbst ernannten Engel der Erlösung. Schliesslich haben sie noch jeden rausgeholt – auch wenn sie manchmal mit ihrem Leben dafür bezahlen. Bis zu 1500 Überlebende im ostukrainischen Kriegsgebiet wählen täglich die Nummer der Freiwilligen-Organisation. Was sie sagen, ist immer dieselbe: «Kommt sofort! Wir fürchten um unser Leben!»
Mindestens 5000 Zivilisten haben seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs ihr Leben verloren, schätzt die Uno. Die ukrainische Armee geht von fast 30’000 Toten aus. Immer wieder treffen die unpräzisen russischen Geschosse auch Wohnquartiere. Die ukrainische Regierung sagt: mit Absicht. Der Raketenterror soll die Menschen vertreiben.
Soldaten ziehen in die Wohnungen der Geisterstadt
Nadja hat trotz der ständigen Bedrohung lange ausgeharrt. Ihre Heimat Slowjansk gleicht heute einer Geisterstadt. Drei Viertel der etwa 100’000 Bewohner sind geflohen. Die von Pappeln gesäumten Alleen der Innenstadt sind mit Geröll und rostigen Panzersperren verbarrikadiert. In den leeren Wohnhäusern haben Soldaten Quartier bezogen. Hunde streunen durch die zerschossenen Quartiere. Es riecht nach Rauch – und manchmal kurz nach Sommer. In der Ferne dröhnt das dumpfe Wummern der Artillerie.
Nadja wartet in ihrer Blockwohnung, sie trägt einen grünen Blumenrock, vor sich auf dem Boden stehen zwei Plastiksäcke mit Kleidern und ein bisschen Geld. «Bringt ihr mich an einen sicheren Ort?», fragt sie den jungen Mann, der jetzt im Türrahmen steht. «Natürlich. Einen Ort mit warmem Essen und netten Menschen», sagt Roman Buhaikow (31). Das Haar hat er zu einem strammen Bürzi festgezurrt. Mit tiefer Stimme redet er auf Nadja ein, beruhigt sie, nimmt sie an der Hand. Ein letztes Mal tritt die alte Frau über die Schwelle ihrer Wohnung. «Kommst du mit mir?», schluchzt sie. «Den ganzen Weg», verspricht Buhaikow.
Zwölf Minuten braucht Nadja für die drei Stockwerke hinunter ins Erdgeschoss. Eine Nachbarin löscht in der Wohnung das Licht , zieht den Sicherungsstecker, schliesst hinter ihr die Tür. Nadja stöhnt, hält inne, klammert sich an ihren Stock. Draussen vor der Tür wartet ihr Nachbar Valery (62) für einen Abschiedsgruss. Ob er nicht gleich mitkommen wolle, fragt Buhaikow. Valery lacht laut auf, hebt die Hand und ruft: «Zar Alexei Nikolajewitsch!» Dann redet er von Sex mit Japanerinnen, von Massagen in Russland, lacht schelmisch, quasselt wirres Zeug. Nadja steigt in das französische Ambulanzfahrzeug, faltet die Hände, hört Valerys Geplärre wortlos zu.
«Die Heimat ist ihnen wichtiger als das Leben»
Es seien bei weitem nicht nur Wahnsinnige und Demente, die jetzt noch in der Kriegszone ausharren, berichtet Roman Buhaikow auf der Fahrt aus der zerstörten Stadt. «Manche sind halt Pro-Putin. Die stört es nicht, wenn hier plötzlich die Russen einmarschieren», sagt er. «Viele aber sind einfach typische ukrainische Patrioten: Ihre Heimat ist ihnen wichtiger als ihr Leben.»
Der junge Mann sieht beinahe aus wie der Fussballer Zlatan Ibrahimovic: dieselbe markante Nase, dieselben Adleraugen, derselbe kompromisslose Gesichtsausdruck. «Slava Ukraini, wir machen eine Evakuationsfahrt», erklärt er den schwer bewaffneten Soldaten an den Checkpoints raus aus der Stadt. «Slava Heroyam!», Ehre den Helden. Dann gibt er Gas.
Das Schild an der leeren Schnellstrasse in Richtung Westen erlaubt Tempo 80. Buhaikow fährt doppelt so schnell. «Mein Tempo ist mein Schutz, dafür trage ich keinen Helm», sagt er. Ohne jedes Lachen. Er meint das ernst. Sein Tipp: «Schnall dich gar nicht an, dann kannst du schneller aus dem Auto springen, wenn sie schiessen.»
Zwei Fahrer wurden getötet, mehrere Helfer entführt
Die Verkehrssicherheit im Kriegsgebiet folgt eigenen Regeln. Und selbst die retten nicht jeden. Immer wieder kommen Fahrer der Engel der Erlösung unter Beschuss. Mehrere Helfer wurden bereits von Putins Truppen gefangen genommen. Und erst vor ein paar Wochen starben zwei von ihnen im russischen Kreuzfeuer. Die Mutter mit den drei Kindern, die sie evakuieren wollten, hat wie durch ein Wunder überlebt.
Vor jeder Ampel schaltet Roman Buhaikow kurz das Blaulicht an. Bremsen oder gar Anhalten kann hier tödlich sein. Verkehr gibt es sowieso kaum noch. Nur Panzer und ein paar Lastwagen kommen uns entgegen, alte sowjetische Ladas transportieren Soldaten an die Front. Insekten zerplatzen auf der Scheibe, blauer Dunst liegt über der löchrigen Strasse. Nadja schaut stumm durchs halb geöffnete Fenster, die Hände noch immer gefaltet. Auf den weiten Feldern links und rechts heben Männer neue Schützengräben aus, schleppen Sandsäcke, hissen blau-gelbe Ukraine-Fahnen. Slowjansk wird die nächste Front in diesem Krieg. Fällt die Stadt, ist der Donbass verloren.
Buhaikow weiss, wie es sich anfühlt, wenn man seine Heimat verliert. Aufgewachsen ist er in der ostukrainischen Stadt Sjewjerodonezk, die im Juni von den Russen erobert wurde. 90 Prozent der Gebäude sind dort zerstört. Auch Buhaikows Haus steht nicht mehr. Seinen Job als Atomkraft-Ingenieur musste er aufgeben. Seither fährt er jeden Tag mit der Ambulanz von der ostukrainischen Metropole Dnipropetrowsk raus an die Kriegsfront, lädt Hilfsgüter ab und Menschen ein. 200 Dollar pro Woche erhält er von den Engeln der Erlösung für diese lebensgefährliche Arbeit, dazu Kost und Logis in Dnipropetrowsk.
Ohne Schweizer Hilfe könnten die «Engel» niemanden retten
Organisiert hat das alles Dmytro Myshenin (29). Der Hüne sitzt in einem Café im historischen Zentrum von Dnipropetrowsk. Die blauen Augen liegen tief in seinem Gesicht, mit riesigen Pranken wischt er immer wieder eingehende Anrufe weg. Seine Stimme ist sanft, die Miene ernst, der Fokus klar: «Wir müssen die Menschen da rausholen, das ist ihre einzige Chance!»
Mehr als 25’000 Ukrainer haben er und seine 16 Fahrer seit April bereits aus dem Kriegsgebiet gerettet, mehr als 3000 Tonnen Hilfsgüter in die umkämpften Dörfer gebracht. Freunde helfen Myshenin im Büro, nehmen rund um die Uhr Anrufe entgegen, suchen nach Geldgebern. «90 Prozent unserer Spenden kommen aus der Schweiz vom Verein Segel der Hoffnung», sagt er. «Ohne diese Hilfe müssten wir unser Büro morgen schliessen.»
Auch Myshenin hat seine Heimat verloren. Bis zum Kriegsausbruch betrieb er mit seiner Familie ein Möbelgeschäft in Wolnowacha, ganz in der Nähe von Mariupol. Dann kamen die Bomben – und der riesenhafte Mann ging. Heute noch zuckt er zusammen, wenn er laute Geräusche hört.
«Vielen Menschen fällt die Flucht trotz all dem Grauen schwer», erzählt Myshenin. «Sie haben 100, vielleicht 200 Dollar Ersparnisse und ihr kleines Häuschen, sonst nichts. Wenn sie im Kriegsgebiet bleiben, erhalten sie wenigstens humanitäre Hilfe. Wenn sie fliehen, erwartet sie nur Ungewissheit.» Viele hätten Angst vor dem Unbekannten, seien nie wirklich gereist: Lieber unter Bomben leben statt in die Ferne fliehen. Draussen rast ein Töff vorbei. Der Hüne erschrickt kurz, dann schnauft er laut durch die Nase aus.
Der letzte Zug in die vermeintliche Sicherheit
Myshenin bestellt noch einen Orangensaft. Ein kleiner Luxus in all dem Elend, ein winziger Break im Kriegsgewirr. 16 bis 18 Stunden arbeitet er jeden Tag – seit April. «Am Wochenende war ich zum ersten Mal seit Kriegsausbruch auf einem Date mit meiner Frau», erzählt er. «Ich hatte schon Angst, dass sie mich verlässt, wenn ich immer nur arbeite.» Ein Lächeln zieht über sein breites Gesicht – das einzige Mal im unserem zweistündigen Gespräch.
Nadja lächelt nicht. Verunsichert mustern ihre grauen Augen die Umgebung. Das Ambulanzfahrzeug ist am Ziel angekommen: einer Kirche in Pokrowsk, der letzten Stadt im Donbass, die noch mit dem Zug erreichbar ist. Für die Menschen, die von den Engeln der Erlösung und anderen Hilfsorganisationen hier abgeladen werden, gibt es Suppe und Tee. Eine Frau registriert jeden Neuankömmling, fragt nach, wie es geht. Nadja murmelt nur, wartet, die Hände gefaltet. An der Wand hinter ihr hängt ein Plakat, darauf das biblische Gleichnis von der Heuschreckenplage.
Die Heuschrecken sind in Nadjas Heimat gerade das kleinste Problem. Eine ganz andere Plage fegt über das Land, bombt sich den Raum frei für ihr brutales Vorrücken. Auch der Bahnhof von Pokrowsk wurde von der Plage nicht verschont. Vor zwei Tagen schlug eine Granate ein, zerfetzte das Treppengeländer des Fussgängerübergangs. Glasscherben liegen auf dem Perron, wo eine lange Komposition bereitsteht, mit 13 Waggons.
Der Flüchtlingszug macht hier einmal täglich halt, lädt Menschen ein, die gehen wollen, rollt raus aus dem Donbass in die vermeintliche Sicherheit. Nadja ist an diesem Sonntag eine von 86 Passagierinnen. Roman Buhaikow hilft ihr beim Einsteigen, trägt die beiden Plastiksäcke mit all ihrem Hab und Gut ins Abteil. «Wenn der Krieg vorbei ist, bringst du mich dann zurück in meine Wohnung?», fragt Nadja ganz leise.
Buhaikow legt die Hand aufs Herz und verneigt sich leicht vor der alten Frau im heissen Zugabteil. Dann sagt er: «Höchstpersönlich! Das verspreche ich.»