US-Think-Tank analysiert russische Manöver
Übernehmen die Ukrainer die Kontrolle im Krieg?

Ändert sich gerade das Machtverhältnis im Krieg? Ein US Think Tank hat analysiert, dass erstmals die Russen auf ukrainische Angriffe reagieren müssen. Der Schweizer Militärexperte Marcel Berni ordnet ein.
Publiziert: 06.08.2022 um 01:28 Uhr
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Aktualisiert: 06.08.2022 um 09:30 Uhr
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Seit bald einem halben Jahr wütet der Krieg in der Ukraine.
Foto: keystone-sda.ch
Fabian Vogt

Seit mehr als fünf Monaten führt Russland seinen Krieg gegen die Ukraine – ein eindeutiger Sieger ist bisher nicht auszumachen.

Nun aber meldet ein US Think Tank, dass sich das Machtgefüge allem Anschein nach verschoben hat. Das «Institute for the Study of War (ISW)» schreibt in seiner täglichen Lagebeurteilung, dass die Ukraine zum ersten Mal seit Kriegsbeginn in der Lage zu sein scheine, die Initiative im Krieg zu übernehmen. Das machen die Kriegsanalysten an der Tatsache fest, dass die Russen zunehmend Personal und Ausrüstung in die Gebiete Cherson und Saporischschja verlegen – womit sie aber die Einnahme der Städte Slowjansk und Sewersk «offenbar aufgegeben» hätten.

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Reaktion statt Aktion

Zwar hätten die Russen auch in der Vergangenheit Ressourcen umverteilt – etwa, als sie einen Angriff auf Charkiw aussetzen, um in Luhansk verstärkt anzugreifen. Das sei aber jeweils aus eigener Initiative geschehen, weil ihre Vorgesetzten neue Prioritäten setzten. Etwa auch, als der Angriff auf Kiew zu Beginn des Kriegs so kläglich scheiterte und die Russen danach frei entscheiden konnten, ihren Fokus dem Osten zu widmen.

Nun sei die Situation aber anders. «Die russischen Streitkräfte scheinen in diesem Fall eher auf die ukrainische Gegenoffensive im Gebiet Cherson zu reagieren, als bewusst Ziele auszuwählen, auf die sie ihre Anstrengungen konzentrieren wollen», heisst es im Bericht.

Ob die Ukraine in der Lage sein werde, umfangreiche Gegenoffensiven auf mehreren Achsen gleichzeitig durchzuführen, werde darüber entscheiden, wie ernst die Situation für die Russen sei. Wenn sie etwa um die Stadt Isjum herum Druck ausüben und gleichzeitig die Gegenoffensive in Cherson fortsetzen könnten, würden die russischen Streitkräfte vor sehr heikle Probleme gestellt.

Dann müssten sie sich wohl entscheiden, entweder die westlich gelegenen Stellungen um Isjum herum aufzugeben, um ihre Kommunikationslinien weiter nördlich und östlich zu verteidigen, oder mehr Personal und Ausrüstung einzusetzen, um zu versuchen, die aktuelle Frontlinie zu halten. «Diese Kräfte müssten jedoch von einer anderen Achse kommen, wodurch andere russische Erfolge gefährdet würden», heisst es in der Analyse.

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Drohungen genügten, dass Russen Kriegspläne anpassten

Gewinnen wirklich die Ukrainer die Oberhand – oder ist das Wunschdenken eines politisch motivierten US-Unternehmens? «Ich halte die Analysen des ISW für glaubwürdig und aktuell», sagt Marcel Berni, Strategieexperte der Militärakademie an der ETH Zürich, zu Blick. Es sei aber davon auszugehen, dass das Institut ein Interesse daran habe, die Ukraine zu unterstützen.

Zum vorliegenden Fall sagt Berni: «Es stimmt, dass die Russen zunehmend Material und Soldaten in den Süden verlegen, weshalb der Vormarsch im Osten seit längerem nur noch mikroskopisch ist.» Allerdings sei die vielfach versprochene ukrainische Gegenoffensive seiner Meinung nach bisher ausgeblieben. Trotzdem hätte die Drohung genügt, dass die Russen die Kriegspläne angepasst hätten.

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Berni bleibt skeptisch

Ob die Ukrainer wirklich fähig seien, «zum ersten Mal den Verlauf des Krieges aktiv zu gestalten» müssten aber die kommenden Wochen zeigen. Berni: «Das würde ja heissen, dass die Ukraine von der Defensive in die strategische Offensive wechseln könnte. Sollte sie dazu wirklich in der Lage sein, hätte sie wahrscheinlich mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie Russland in den letzten Monaten.» Der Experte spricht dabei unter anderem lange Frontbögen, punktuelle Gegenangriffe und Versorgungsprobleme an.

Berni hält fest, dass die Analysten des Think Thanks den Ukrainern viel zutrauen. Ihm würde aber die längerfristige Perspektive fehlen: «Für mich wird dieser Krieg je länger, desto mehr nicht mehr nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch auf den Fliessbändern der Waffenfabriken entschieden.»

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