Im Ukraine-Krieg in den letzten Wochen hat sich kaum etwas getan. Die Russen erzielen Gebietsgewinne im Donbass, allerdings äusserst mühselig und mit einem enormen Ressourcenverschleiss (Soldaten, Material) auf beiden Seiten.
Weil der Westen die Ukraine tatkräftig unterstützt, sind die Spiesse beider Armeen ungefähr gleich lang – der Abnutzungskampf könnte noch Jahre dauern, glauben viele Beobachter.
Nun meldet sich aber Leonid Wolkow (41) in den sozialen Medien. Er spricht davon, dass Putins letzter Kampf kurz bevorstehe. Wolkow ist der engste Berater des inhaftierten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny (46), dem wohl grössten Putin-Gegner in Russland. Seine Twitter-Botschaft geht viral, viele stimmen ihm zu.
Waffenstillstand, um Soldaten zu schonen
Wolkow skizziert darin die aktuelle Lage und sagt, die Strategie von Wladimir Putin (69) sei derzeit, ein Gebiet zuerst mit massivem Artilleriefeuer einzudecken und danach Truppen, die er für entbehrlich halte, zu entsenden – beispielsweise Wagner-Söldner.
Träfen diese auf Widerstand, zögen sie sich zurück und der Artilleriebeschuss gehe weiter. «Dieser Ansatz ermöglicht es Russland, langsam vorzurücken und erhebliche Verluste in der regulären Armee zu vermeiden, nachdem sie in den ersten Kriegsmonaten 30 bis 50 Prozent ihres Personals verloren haben», schreibt Wolkow.
Nun aber würden die Himars-Raketensysteme, welche der Westen der Ukraine geliefert hat, die Macht auf dem Schlachtfeld verschieben, so Wolkow. Die russische Artillerie sei plötzlich nicht mehr so dominant. Putins Idee, auf dem Schlachtfeld zu gewinnen, sei damit definitiv gescheitert.
«Er wird er in einigen Jahren wieder angreifen»
Darum wende Putin eine neue Strategie an: Er möchte einen Waffenstillstand erreichen, um die eroberten Gebiete im Süden abzusichern. Dieser wäre laut Wolkow aber keineswegs temporär, da die Unterstützung im Westen für die Ukraine danach sinken würde. Viele Politiker und deren Wähler hätten «lieber einen schlechten Frieden als einen guten Krieg».
Mit der Folge, dass Putin Gebietsgewinne erzielte, seine Truppen ausruhen lassen könne und keine Angst vor Konsequenzen für seine Verbrechen haben müsse, während Millionen Ukrainer ihre Wohnungen verloren haben oder nach Russland deportiert wurden. «Und wenn er stark genug ist, wird er in einigen Jahren wieder angreifen», schreibt Wolkow.
Die westlichen Wähler umstimmen
Weil aber die Ukraine nie einem solchen Waffenstillstand zustimmen würde, setze Putin auf Erpressung, ist Wolkow überzeugt. Das Ziel der Erpressung: die westlichen Verbündeten der Ukrainer beziehungsweise die Wähler in diesen Ländern.
Denn ohne den Westen sei die Ukraine machtlos. «Wenn Putin in seinen 22 Jahren an der Macht eines gelernt hat, dann das: Wenn man mit westlichen Politikern nicht direkt verhandeln kann, muss man mit deren Wählern arbeiten. Auch sie sind von der öffentlichen Meinung abhängig (und das ist ihre Stärke, die Putin als Schwäche betrachtet)», schreibt Wolkow.
Im Juni habe Russland bereits versucht, mit einer Getreideblockade eine Hungersnot in Afrika zu erreichen, die eine Flüchtlingswelle nach Europa und dadurch einen Rechtsrutsch in den Regierungen ausgelöst hätte. In der Hoffnung, dass die Menschen im Westen derart Angst vor einem solchen Szenario hätten, dass sie ihre Regierungen befehlen würden, die Ukraine nicht mehr zu unterstützen.
Doch der Westen sei stark geblieben, der Erpressungsversuch sei gescheitert. Weshalb Putin nun seine «letzte Trumpfkarte», wie Wolkow es nennt, spielen würde: eine Energiekrise heraufzubeschwören. «Er wird den Europäern Angst einjagen. Bis sie denken, sie müssten diesen Winter in ihren Wohnungen erfrieren.» Er werde dafür alle Propaganda auffahren, die ihm zur Verfügung stehe. Sein Ziel sei eine Stimmung, in der die Menschen sagen: «Wir müssen tun, was Putin will, sonst erfriert Europa.»
«Menschen müssen glauben, dass Ukraine gewinnen kann»
Wolkow bittet den Westen, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Es sei möglich, dass Europa einen schwierigen Winter vor sich habe. Das sei der Preis, den man zahlen müsse, weil man die vergangenen acht Jahre untätig gewesen sei. Würde man aber jetzt einknicken, dann habe man «in sechs bis acht Jahren den nuklearen Winter».
Statt Putins Spiele zu spielen, solle der Westen die Ukraine stärker unterstützen. Denn das Zeitfenster, um Cherson und andere Gebiete zurückzuerobern, sei kurz. Je näher der Winter komme, desto besser würde Putins Gas-Erpressung funktionieren. Würden die Ukrainer aber schnelle Erfolge erzielen, würde die öffentliche Meinung nicht kippen, ist Wolkow überzeugt: «Die Menschen müssen daran glauben, dass die Ukraine gewinnen kann.»
Man müsse sich daran erinnern, dass Putin die Erpressungs-Strategie nur aus Verzweiflung wähle, weil sein Kriegsplan gescheitert sei. Er wisse zudem, dass er nicht mehr viel Zeit habe, einen Waffenstillstand zu erwirken. Wolkow gibt Putin «zwei bis drei Monate». Diese würden schwer werden, aber wenn man durchhalte, habe Putin endgültig verloren. «Er hat natürlich schon verloren. Aber wir müssen ihn zermalmen. Er darf nicht davonkommen. Und dafür müssen wir seinem letzten Schlag standhalten», schreibt Wolkow.
«Putin will keinen Waffenstillstand»
Marcel Berni, Strategieexperte der Militärakademie an der ETH Zürich, hält wenig von den Aussagen Volkows. Es stimme zwar, dass die Russen die ukrainischen Städte in Schutt und Asche legen und Probleme haben, Soldaten zu finden, die sie «verheizen» können. Falsch sei hingegen, dass die Himars-Raketen nun diese Strategie der Russen kaputt gemacht hätten. Die Ukrainer hätten zu wenige dieser Waffensysteme, um sie grossflächig einzusetzen. Stattdessen würden die Ukrainer damit zwar immer häufiger punktuelle Erfolge erzielen, das seien aber nur Nadelstiche, und diese würden das Vorrücken der Russen zumindest im Donbass nicht verhindern.
«Putin will darum auch keinen Waffenstillstand, wie Wolkow es darstellt», sagt Berni. «Er will Gebiete gewinnen. Jeden Tag, an dem er das nicht schafft, ist für ihn ein verlorener.» Ohnehin sei Putin «weit weg davon zu verhandeln», die Russen würden ja ständig attackieren.
Wolkow-Aussagen ideologisch
Auch die Idee des Nawalny-Verbündeten Wolkow, dass Putin den Westen erpressen will, um die Ukraine fallen zu lassen, sei weit hergeholt. «Natürlich nutzt Putin jedes Mittel, das ihm im Krieg hilft. Aber nicht, damit der Westen die Ukraine zu einem Waffenstillstand drängt, sondern einfach, um so schnell wie möglich zu gewinnen.»
Berni sagt, Volkwos Aussagen seien sehr ideologisch. Nawalny würde den Krieg zu Recht eben auch als Propaganda-Plattform nutzen, um seinem Gegner Putin zu schaden. «Die Prämisse Volkows ist, dass Putin am Verlieren ist. Dass er in Panik ist und reagieren muss. Aber das stimmt überhaupt nicht. Auf dem Schlachtfeld sieht es derzeit eher nach einem Status quo aus, das ist kein Grund zur Panik für Putin.»
Wolkow habe zwar recht, so Berni, wenn er sagt, dass die Ukraine vom Westen abhängig sei und dieser die Getreide- und Gas-Blockaden mit Sorge beobachte. Aber es gebe derzeit keinerlei Anzeichen, dass die Nato deshalb ihre Unterstützung der Ukraine gegenüber aufgeben würde. Stattdessen sei dem Westen durch den Krieg bewusst geworden, dass man unbedingt weg vom russischen Gas müsse, egal wie sich die Situation in der Ukraine entwickle. Auch die Aussage, dass der Krieg in den nächsten zwei bis drei Monaten entschieden werden würde, sei Propaganda, sagt Berni. Stand jetzt dauere dieser noch eine unabsehbare Zeit, ohne einen schnellen Sieg für eine der beiden Seiten. «Wobei ich mich mittlerweile frage, was überhaupt ein Sieg ist», sagt Berni. «Geht es da um bestimmte Gebiete? Um politische Kontrolle? Die totale Vernichtung des Gegners? Wann werden die Ukraine oder die Russen sagen ‹wir haben gewonnen›? Was wollen sie genau? Ich weiss es nicht.»