Die Verräter sind noch hier im Dorf, sagt Masha (82). «Und wenn ich mit dir rede, dann kommen sie und foltern mich.» Masha schaut die erdige Strasse hinunter, die von zerbombten Häusern und ausgebrannten Lastwagen gesäumt schnurgerade durchs Dorf Drobyschewe führt. In der Luft liegt ein strenger Geruch: verbrannter Gummi, Rauch, herbstlicher Moder. Masha steht gebückt vor dem blauen Wellblechtor am Eingang ihres Gartens. Es ist von Granatensplittern durchlöchert. Dann sagt die alte Frau: «Ach, was solls. Mich braucht ja sowieso niemand mehr.»
Masha erzählt von den russischen Besatzern, die Schnaps von ihr wollten, obwohl sie doch gar keinen hatte. Vom Hunger und der Kälte in ihrem Keller, wo sie sich monatelang vor den Raketen versteckte. Von ihrem Sohn, der auf dem Weg vom Feld zurück verwundet und verschleppt worden ist. Von den herumlungernden Soldaten, die mit ihren Gewehren und ihren roten Armbändern durch Drobyschewe stolzierten.
Jetzt sind da neue Soldaten – mit blauen Armbändern. Ukrainer. Sie klauen nicht und sie wollen keinen Schnaps. Sie haben die Russen erst vor wenigen Tagen aus Mashas Dorf vertrieben. Drobyschewe ist wieder frei, genau wie sein berühmt gewordener Nachbarort Lyman. Doch der Frieden ist fern. Das dumpfe Grollen der Artillerie hallt von den zerschossenen Fassaden. Der Feind ist noch immer verdammt nah.
Nelas Bitte an die Soldaten
Vorne auf dem Dorfplatz verteilen ukrainische Nothelfer Brot und Konservendosen an die Menschen, die das Grauen der vergangenen siebeneinhalb Monate überlebt haben. Der humanitäre Konvoi ist der erste Besuch der Aussenwelt, seit Drobyschewe vor wenigen Tagen befreit worden ist. Etwa 100 Menschen stehen dicht gedrängt an und starren in die Leere. Sie wirken wie eine verschreckte Herde, die knapp dem Wolf entkam und noch nicht ganz weiss, ob sie den neuen Hirten trauen kann. Die meisten sind alt, viele allein.
«Die Russen haben ganze Lastwagen mit unseren Sachen gefüllt und sind quer über die Felder geflohen», erzählt Nela (74). Mit ihren trüben Augen blickt sie verloren auf das Wenige, was von ihrer Heimat geblieben ist. Doch dann verzieht sie den zahnlosen Mund zu einem Lächeln: «Das Schlimmste ist vorbei. Mein Dach ist weg, meine Fenster sind kaputt, von meinem Haus stehen nur noch vier Wände. Aber dafür sind die ukrainischen Soldaten wieder hier. Ich habe sie gebeten, für immer zu bleiben.» Nela zurrt ihre Kartonkiste auf ihren Einkaufstrolley und spaziert die zerschossene Strasse hinunter, gefolgt von einem herrenlosen Hund.
Sie schweigen aus Angst
Jede einzelne Sekunde habe er unter Stress gestanden, erzählt Leonid (63). Ein Goldzahn blitzt aus dem faltigen Gesicht. Die Stimme wirkt zu fröhlich für die dunklen Momente, die der Mann schildert. Auch er hat sich mit seiner Frau monatelang im Keller versteckt, während die Russen in seinem Nachbarhaus allabendlich ihre Sauforgien veranstalteten. Leonid fragt nach Zigaretten. Eigentlich rauche er gar nicht. Aber in Zeiten wie diesen – wer weiss. Da könne einem eine Zigarette vielleicht plötzlich das Leben retten. Was haben die Russen denn gemacht während ihrer Belagerung, fragen wir Leonid. «Woher soll ich das wissen?», meint er. «Ich war die ganze Zeit im Keller.»
Aus dem Nachbarort Lyman gab es Ende dieser Woche Berichte über zu Tode gefolterte Zivilisten. Ein Massengrab mit 50 Toten ist aufgetaucht. Lyman ist jetzt eines dieser Dörfer, deren Namen sich als Symbole des Grauens in die Erinnerung der Ukraine einfressen: Butscha, Irpin, Isjum, Lyman. Und Drobyschewe?
«Man hört Dinge», sagt Alla (55), eine Englischlehrerin, die ihre Schulklasse so vermisst, dass sie zweimal während des Gesprächs zu weinen beginnt. Mehr sagen will sie nicht.
«Wir wurden endlich befreit», sagt Vadim (38). Der Rest: nur Seufzen.
Die beiden einzigen jungen Frauen auf dem Dorfplatz schauen betreten zu Boden, als wir sie auf die russischen Soldaten ansprechen.
Der Schleier der Angst liegt noch schwer über dem Dorf. Kaum jemand getraut sich, offen zu reden. Was immer hier passiert ist: Die Wahrheit braucht Zeit.
Ein Raketenangriff zum 80. Geburtstag
Nur eine will unbedingt erzählen: Natascha (58), dicke Wollmütze, weit aufgerissene Augen. «Ich sage dir, was hier passiert ist!», schreit sie. «Das waren die Ukrainer! Alles waren die Ukrainer. Sie sind schuld!» Natascha wird lauter, immer lauter. Mein Übersetzer sagt wütend: «Gehen wir!» Ein paar Monate hätten der russischen Propaganda offenbar gereicht, um sich selbst in den Köpfen einiger kriegsgeschundener Ukrainer festzusetzen.
Am Rand des Platzes steht Marina (80). Sie legt die Hände ineinander und wühlt leise in ihren Erinnerungen. «An meinem 80. Geburtstag hat eine Rakete mein Zuhause zerstört. Es ist alles kaputt. Ich hatte Glück, dass ich nicht im Haus war.» Aber das sei halt der Krieg, sagt sie. «Ich bin den Russen nicht böse.» Weggehen werde sie nicht. «Ich muss doch das Haus renovieren. Bald wird es Winter.»
Auf dem Rückweg aus Drobyschewe nach Westen fahren wir durch menschenleere Gebiete. Kaum ein Haus steht noch, aus den verrotteten Sonnenblumenfeldern ragen Blindgänger-Raketen. Wer sich auf die Felder wagt, erntet fast sicher den Tod. Schilder warnen vor Minen, rostige Panzergerippe zeugen von den heftigen Schlachten, die man hier bis vor wenigen Tagen austrug. Die toten Soldaten hat man weggeräumt. Die toten Tiere sind geblieben.
Wer zu langsam ist, der stirbt
Sascha (52) rast mit 120 Stundenkilometern über die zerbombte Piste, raus aus dem Krieg. «Die Wälder hier sind voller herumirrender Russen», erklärt der einstige Schulbus-Chauffeur. «Mit 120 km/h treffen sie dich nicht. Mit 100 ist es fifty-fifty. Mit 80 bist du tot.» Eine Wespe surrt an der Frontscheibe auf und ab und fliegt Sascha schliesslich direkt ins Gesicht. «Verfluchte Separatistin!», schimpft er und schlägt das Tier tot, ohne zu bremsen. Ausser unserem Lieferwagen sind hier ausschliesslich ukrainische Militärfahrzeuge unterwegs. Seit dem Beginn der grossen Gegenoffensive vor einigen Wochen sind sie alle mit einem weissen «+» gekennzeichnet, dem neuen Anti-Symbol zum russischen «Z».
Kurzer Halt in Isjum, vor drei Wochen befreit, berühmt geworden durch die entdeckten Folterkeller, die von den unmenschlichen Taten der russischen Besatzer zeugen. Auf dem zentralen Platz der Stadt ein ähnliches Bild wie in Drobyschewe: wartende Menschen, Lieferwagen voller Konservendosen. Am Rand der Menge stehen Rima (37) und Oleksander (35) mit ihrem viermonatigen Baby, warm eingepackt im Kinderwagen, den das junge Paar erst gerade von einem Helfer geschenkt bekommen hat. «Wir waren hier wie Häftlinge in einem Gefängnis», erzählt Oleksander mit leiser Stimme. «Jetzt sind wir frei. Aber wir haben nichts mehr. Unser Haus ist zerstört.»
Oleksander blickt in den Kinderwagen, voller Liebe und Sorge. «Um sie geht es jetzt. Für sie müssen wir sorgen», sagt er. Nadiya heisst das Mädchen, ein ukrainischer Name. Er bedeutet «Hoffnung». Sie ist alles, was Oleksander und den Menschen hier im Donbass noch bleibt.