Das Verwaltungsgebiet Luhansk war seit Anfang Juli komplett unter Kontrolle der russischen Streitkräfte und der Separatisten. Jetzt dringt die ukrainische Armee erstmals wieder in die Region vor. Wie das britische Verteidigungsministerium in seinem täglichen Kurzbericht schreibt, macht die Ukraine bei ihren Offensivoperationen sowohl an der Nordost- als auch an der Südfront weitere Fortschritte.
Im Nordosten, in der Oblast Charkiw, hat die Ukraine demnach inzwischen ein beträchtliches Gebiet östlich des Flusses Oskil unter ihre Kontrolle gebracht. «Ukrainische Verbände sind bis zu 20 km über den Fluss hinaus in die russische Verteidigungszone in Richtung des Nachschubknotens der Stadt Swatowe vorgedrungen», schreibt das britische Verteidigungsministerium.
Versorgungslinie im Visier
Von russischer Seite gibt es keine offizielle Bestätigung für diese Gebietsverluste, auch die ukrainische Seite hält sich mit detaillierten Angaben zu ihren Rückeroberungen zurück. Im Internet kursierende Videos und Fotos zeigen jedoch häufig ukrainische Soldaten, die sich angeblich in den fraglichen Gebieten befinden. Gelingt es Spezialisten, den Aufnahmeort nachzuvollziehen, kann dies als Hinweis angesehen werden, dass ein Vorstoss erfolgreich war.
Mit einer Verschiebung der Front jenseits des Flusses Oskil in Richtung Osten wäre fast der gesamte Verwaltungsbezirk Charkiw wieder in ukrainischer Hand. Zugleich ist die ukrainische Armee offenbar von der kürzlich eroberten Stadt Lyman aus erstmals seit Monaten wieder in den Verwaltungsbezirk Luhansk vorgedrungen. Wie das britische Verteidigungsministerium schreibt, sei es «sehr wahrscheinlich», dass die Ukraine dort nun die wichtige Strasse zwischen Swatowe und Kreminna mit den «meisten ihrer Artilleriesysteme» beschiessen könne. Dadurch werde die Fähigkeit Russlands, seine Einheiten im Osten zu versorgen, weiter eingeschränkt.
Wichtiger Eisenbahnknotenpunkt in Lyman
Wie Marcel Berni (34), Strategieexperte an der Militärakademie der ETH Zürich, am Dienstag gegenüber Blick erklärte, werde sich die Ukraine als nächstes Ziel vermutlich die Stadt Kreminna in Luhansk vorknüpfen. «Mit Lyman halten die ukrainischen Streitkräfte einen wichtigen Eisenbahnknotenpunkt unter Kontrolle. Dies bringt ihnen beim Transport und bei der Verschiebung von Munition, Material und Personal enorme Vorteile», sagte Berni.
Der ukrainische Verwaltungschef von Luhansk jubelt bereits: «Die Ent-Besatzung von Luhansk hat begonnen», sagt er in einem Video. Er behauptet, dass das ukrainische Militär bereits in mehreren Siedlungen der Region die ukrainische Flagge gehisst habe. Auf welche Gebiete er sich genau bezog, erwähnte er jedoch nicht. Die vorläufig letzten Kämpfe in der Oblast Luhansk zwischen ukrainischen Truppen und der russischen Armee sowie den Separatisten-Verbänden hatten sich Anfang Juli zugetragen. Damals wurden die letzten ukrainischen Streitkräfte aus der Stadt Lyssytschansk vertrieben.
Meldungen über Russen-Rückzug im Süden
Auch im Norden der südukrainischen Oblast Cherson erzielen die ukrainischen Streitkräfte offenbar weitere Fortschritte. Die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) schreibt in ihrem neusten Lagebericht, geolokalisiertes Bildmaterial würde ukrainische Truppen in Velyka Oleksandriwka, Novopetriwka und Starosillya – alles Ortschaften im Nordwesten von Cherson – zeigen. Russische Quellen würden zudem bestätigen, dass die ukrainischen Streitkräfte auch mindestens die Hälfte von Dudtschany erobert haben, einer Siedlung am Westufer des Flusses Dnepr im Nordosten von Cherson.
Die ISW-Experten studieren auch laufend die Beiträge von russischen Militärbloggern. Mehrere russische Quellen geben laut ISW an, dass sich die russischen Truppen nach Süden in Richtung Beryslaw zurückziehen und sich in der Gegend von Mylowe neu formieren. Eine russische Quelle berichtet demnach auch von der Eroberung von Katschkariwka durch ukrainische Truppen, einer weiteren Ortschaft am Dnepr, südlich von Dudtschany gelegen. Auch das Dorf Davydiv Brid ganz im Westen der Oblast Cherson ist dem ISW zufolge nicht mehr in russischen Händen.
Wenn man bedenkt, dass Russland vorübergehend fast die Hälfte der Oblast Charkiw kontrollierte und vermutlich bis auf einen kleinen Landstrich alles wieder verlor, lässt sich der Umfang des gesamten Gebietsverlusts für Russland erahnen: Charkiw ist mit einer Fläche von 31’415 Quadratkilometern etwas kleiner als die Schweiz (41’285 Quadratkilometer). Rechnet man die im Süden und in der Oblast Donezk offenbar verlorenen Gebiete zu diesen Gebietsverlusten hinzu, kommt man auf eine Fläche von rund der Hälfte der Schweiz, die von der Ukraine angeblich zurückerobert wurde. (noo)