Eine Flüchtlingswelle wie im Zweiten Weltkrieg: Bis Ende Jahr rechnet der Bund mit rund 80 000 Geflüchteten aus der Ukraine. Dazu kommen gegen 24 000 Asylsuchende, die von der Balkanroute und anderswoher in die Schweiz reisen. Macht total über 100 000 Flüchtlinge.
Zum Vergleich: Während der Flüchtlingskrise 2015 suchten nicht einmal halb so viele Menschen in der Schweiz Schutz. Rund 40 000 Asylsuchende zählte das Staatssekretariat für Migration (SEM) damals. Dennoch war die Aufregung ungleich grösser. Von einem «Flüchtlingstsunami» war die Rede; die SVP legte bei den Wahlen im selben Jahr um fast drei Prozentpunkte zu.
In der Politik – insbesondere im Departement von Justizministerin Karin Keller-Sutter (58, FDP) – fürchtete im Frühling manch einer, die Solidarität mit den geflüchteten Ukrainerinnen werde von kurzer Dauer sein. Im Sommer gab es dafür erste Anzeichen. Die Berichte von der Kriegsfront nahmen ab, der mediale Fokus verschob sich auf die Strommangellage. Und die SVP forderte, dass Ukraine-Flüchtlinge aus «sicheren» Regionen keinen Schutz mehr erhalten sollten. Dieser solle nur noch für Flüchtlinge aus der Süd- und Ostukraine gelten.
Russische Eskalation fördert Solidarität
Doch die Volkspartei hatte sich verkalkuliert. Just an dem Tag, an dem der Nationalrat im September über die Aufhebung des S-Status abstimmte, verkündete Russlands Präsident Wladimir Putin (70) die sogenannte Teilmobilmachung. Die SVP blieb mit ihrer Forderung alleine auf weiter Flur – selbst aus der eigenen Partei gab es zahlreiche Enthaltungen. Das (vorläufige) Fazit: Mit Angriffen auf ukrainische Flüchtlinge lässt sich politisch nicht punkten.
Tatsächlich dürfte die neuerliche Eskalation des Kriegs ein wichtiger Grund sein, warum die Solidarität der Schweizer Bevölkerung mit den Ukrainern gross bleibt. So melden sich beim Hilfswerk Caritas nach wie vor Gastfamilien, die ukrainische Flüchtlinge aufnehmen wollen.
Natürlich hat das grosse Wohlwollen gegenüber den Ukrainerinnen auch mit der Zusammensetzung der Flüchtlingsgruppen zu tun. Frauen und Kinder geniessen mehr Sympathien als junge Männer. Erst recht, wenn sie aus Europa kommen – und christlichen Glaubens sind.
Schutzsuchende aus der Ukraine nicht mitgerechnet: 2681 Personen haben im September in der Schweiz Asyl beantragt, 635 mehr als im August und 1138 mehr als im September des Vorjahres. Die wichtigsten Herkunftsländer sind Afghanistan, die Türkei, Syrien, Eritrea und Algerien. Doch warum steigen die Asylgesuche von Personen aus diesen Ländern gerade jetzt?
Das Bundesamt für Migration SEM erklärt den wachsenden Flüchtlingsstrom folgendermassen: «Die Pandemie hat viele Volkswirtschaften in traditionellen Herkunfts- und Transitländern von Asylsuchenden geschwächt.» Die steigenden Preise als Folge des Ukraine-Krieges hätten die Situation zusätzlich verschärft.
Menschen, die in den besagten Ländern bereits in prekären Verhältnissen lebten, geraten nun also erst recht in Not – und sehen sich gezwungen, abzuwandern. Dabei handelt es sich laut SEM etwa im Fall der Türkei nicht nur um Staatsangehörige, sondern beispielsweise auch um vor den Taliban geflüchtete Afghanen, die sich schon länger in der Türkei aufhielten.
Schutzsuchende aus der Ukraine nicht mitgerechnet: 2681 Personen haben im September in der Schweiz Asyl beantragt, 635 mehr als im August und 1138 mehr als im September des Vorjahres. Die wichtigsten Herkunftsländer sind Afghanistan, die Türkei, Syrien, Eritrea und Algerien. Doch warum steigen die Asylgesuche von Personen aus diesen Ländern gerade jetzt?
Das Bundesamt für Migration SEM erklärt den wachsenden Flüchtlingsstrom folgendermassen: «Die Pandemie hat viele Volkswirtschaften in traditionellen Herkunfts- und Transitländern von Asylsuchenden geschwächt.» Die steigenden Preise als Folge des Ukraine-Krieges hätten die Situation zusätzlich verschärft.
Menschen, die in den besagten Ländern bereits in prekären Verhältnissen lebten, geraten nun also erst recht in Not – und sehen sich gezwungen, abzuwandern. Dabei handelt es sich laut SEM etwa im Fall der Türkei nicht nur um Staatsangehörige, sondern beispielsweise auch um vor den Taliban geflüchtete Afghanen, die sich schon länger in der Türkei aufhielten.
Je länger der Krieg, desto schwieriger
Historiker und Politologe Claude Longchamp (65) zieht Parallelen zu den Ungarn und Tschechoslowaken, die sich in den 1950er und 60er Jahren gegen das sowjetische Regime erhoben – und als Flüchtlinge in der Schweiz mit offenen Armen empfangen wurden. «Auch damals war die öffentliche Meinung klar auf der Seite der angegriffenen Länder», sagt Longchamp.
Angefragte Ukrainer berichten ebenfalls, die Solidarität der Schweizer Bevölkerung sei weiterhin gross. Zoya Miari (23), die mit ihrer Mutter und den kleinen Geschwistern im März in die Schweiz geflohen war, ist mit ihrer früheren Gastfamilie in engem Kontakt geblieben. «Sie helfen uns immer noch regelmässig», erzählt die Ukrainerin. So habe die Gastfamilie ihren beiden jüngeren Geschwistern die Teilnahme an einem Fussball-Lager ermöglicht.
Allerdings: Die derzeitige Solidarität mit den Ukrainern dürfte auch auf der Annahme der Bevölkerung beruhen, dass die Menschen dereinst zurückkehren. Justizministerin Keller-Sutter betont bei jeder Gelegenheit, der S-Status sei «rückkehrorientiert». Sollte sich abzeichnen, dass der Krieg noch Jahre dauert, wird diese Position schwieriger aufrechtzuerhalten sein.
SVP fordert reguläres Asylverfahren
Auch die SVP legt bereits wieder nach. Nationalrat Gregor Rutz (50) stellt die Frage in den Raum, was passiere, «wenn nur schon ein Drittel der Ukrainer ein Asylgesuch stellt». Parteikollegin Martina Bircher (38) zielt in eine ähnliche Richtung, wenn sie in der aktuellen Parteizeitung «Klartext» schreibt: Es sei fraglich, ob der S-Status «tatsächlich so rückkehrorientiert ist, wie behauptet wird». Sie fordert deshalb, für neu ankommende Ukrainer den S-Status aufzuheben und stattdessen das reguläre Asylverfahren anzuwenden.
Noch stossen die Forderungen der SVP auf wenig Resonanz. Doch sie nehmen vorweg, dass die weit verbreitete Solidarität mit den Ukrainerinnen unter Druck kommen wird. Zumindest durch die Politik. Was die Bevölkerung dazu sagt, steht auf einem anderen Blatt.